Vom Spielplatz ins digitale Labyrinth – Die lange Reifung des Frontalkortex
- ljaencke9
- 11. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

An der traditionsreichen Charité in Berlin untersuchten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die dort arbeitenden Neuroanatomen einige wenige Gehirne verstorbener Kinder. Dabei stellten sie fest, dass der Frontalkortex – jene Hirnregion, die für die Kontrolle der exekutiven Funktionen zuständig ist, bei diesen jungen Gehirnen überraschend unreif, unvollständig vernetzt und anatomisch weit von einem erwachsenen Zustand entfernt war. Dies war ein erster, vorsichtiger Hinweis auf das, was Jahrzehnte später zu einem der zentralen Erkenntnisse der Entwicklungsneurowissenschaften werden sollte.
Diese frühen Beobachtungen fanden zunächst wenig Beachtung. Doch das änderte sich mit dem Einzug der Magnetresonanztomografie (MRT) in die Entwicklungsforschung. In den USA begannen verschiedene Forscherteams ab den späten 1990er Jahren, großangelegte Längsschnittstudien mit MRT-Scans durchzuführen. Die Ergebnisse bestätigten eindrücklich, was die Berliner Pathologen bereits vermutet hatten: Der Frontalkortex reift bei Kindern und Jugendlichen deutlich verzögert. Er gehört zu den letzten Regionen des Gehirns, die ihre volle anatomische Ausreifung erreichen – oft erst im Alter von 18 bis 20 Jahren oder sogar darüber hinaus (1). Auch in Europa, vor allem an meinem alten Institut in Zürich, wurde dieses Forschungsfeld vertieft. In diesen Arbeiten wurde der Reifungsrückstand des Frontalkortex bei Jugendlichen anatomisch und funktionell festgestellt (2).
Wie oben bereits erwähnt, ist der Frontalkortex unter anderem für die Kontrolle der exekutiven Funktionen zuständig. Diese sind für den Menschen von herausragender Bedeutung.
Zu den zentralen exekutiven Funktionen zählen:
1. Inhibition (Impulskontrolle / Verhaltenshemmung)
Fähigkeit, automatische oder impulsive Reaktionen zu unterdrücken
Widerstehen von Ablenkungen
Zentrale Voraussetzung für Selbstregulation und Disziplin
2. Arbeitsgedächtnis
Mentales „Behalten“ und gleichzeitige Verarbeitung von Informationen über kurze Zeiträume
Z. B. eine Telefonnummer merken oder Rechenoperationen im Kopf durchführen
Wichtig für sprachliches Verständnis, Problemlösen und Lernen
3. Kognitive Flexibilität (Set-Shifting)
Fähigkeit, zwischen Aufgaben, Perspektiven oder Strategien zu wechseln
Anpassung an neue Situationen
Ermöglicht kreatives Denken und Perspektivübernahme
Erweiterte / abgeleitete exekutive Funktionen:
Diese bauen auf den Kernfunktionen auf und gelten als „höhere“ Ausprägungen exekutiver Kontrolle:
4. Planung
Entwicklung von Handlungsstrategien, um ein Ziel zu erreichen
Vorausdenken, Priorisieren, Zwischenschritte organisieren
5. Problemlösen
Analyse von Situationen, Identifikation von Hindernissen und Finden von Lösungswegen
6. Selbstregulation / Emotionskontrolle
Fähigkeit, Gefühle bewusst zu regulieren und an die Situation anzupassen
Eng verbunden mit Impulskontrolle und sozialer Kompetenz
7. Aufmerksamkeitssteuerung
Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit über längere Zeiträume
Fokussieren trotz Ablenkung
8. Meta-Kognition
Denken über das eigene Denken
Reflektieren, Selbstbeobachtung, Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Fehler
Das Bild, das sich heute zeichnet, ist klar: Der Frontalkortex erreicht seine volle Reife erst um das 20. Lebensjahr. Entsprechend sind die exekutiven Funktionen bei Kindern und Jugendlichen naturgemäß noch nicht vollständig ausgebildet. Dies führt zu einer eingeschränkten Top-down-Kontrolle – und damit zu einer erhöhten Anfälligkeit für impulsives Verhalten und suchtartige Tendenzen, insbesondere in einer Welt, die mit digitalen Plattformen wie TikTok oder YouTube Shorts unmittelbare, mühelose Belohnungen in Dauerschleife anbietet.

Gerade in dieser kritischen Entwicklungsphase wäre es entscheidend, dem schnellen Lustprinzip bewusst zu widerstehen, um jene neuronalen Strukturen zu trainieren, die für Selbstdisziplin, Belohnungsverzögerung und langfristige Zielverfolgung zuständig sind. Wer stattdessen regelmäßig dem Impuls aus dem Bottom-up-System folgt, schwächt die Kontrollinstanzen des Gehirns und kultiviert unbewusst ein Verhalten, das stärker vom unmittelbaren Lustgewinn als von reflektierter Selbststeuerung geprägt ist – mit negativen Konsequenzen für schulischen, beruflichen und sozialen Erfolg.
Tabelle: Auswirkung auf Gehirn und Verhalten, wenn zu viel den Bottom-up-Impulsen nachgegeben wird.
Mechanismen | Auswirkungen |
Dopamin-Fehlregulation | Verlangen, Angst, Entzug, Stimmungsschwankungen, schlechter Fokus, Desorganisation, Reizbarkeit, Depression, aktivierte Belohnungs-/Suchtpfade |
Aktivitätsverlagerung | Verkümmerte Frontallappenentwicklung, schlechte Exekutivfunktion, Stimmungsdysregulation, schlechte Impulskontrolle |
Intensive psychologische Beteiligung | Intimitätsprobleme, schlechter Augenkontakt, Sucht, unterdrückte Kreativität, |
Orientierungsreaktionen, Kampf oder Flucht | Hyperarousal, Überstimulation, nicht erholsamer Schlaf, Unterbrechung der Körperuhr, veränderte Gehirnchemie und Hormone, Entzündungsanfälligkeit |
Umso bedauerlicher ist es, dass Erziehung und Ausbildung heute häufig den Fokus auf kurzfristiges Wohlbefinden und spontane Bedürfnisbefriedigung legen, statt auf die gezielte Förderung exekutiver Funktionen. Was wir jedoch dringend brauchen, ist eine Rückbesinnung auf das Training von Ausdauer, Konzentration, Frustrationstoleranz und Selbstkontrolle – also auf das, was den Frontalkortex stärkt und langfristig ein stabiles, selbstbestimmtes Leben ermöglicht.“
Kinder und Jugendliche hingegen leben häufig in einer Bottom-up-dominierten Welt, in der äußere Reize, spontane Impulse und Emotionen den Ton angeben. Diese neurobiologische Realität erklärt vieles, was Eltern, Lehrer und Ausbildende tagtäglich erleben – von unbedachten Handlungen über emotionale Ausbrüche bis hin zur sprunghaften Aufmerksamkeit.
In einer idealen Welt wäre das kein großes Problem. Kinder würden auf Bäume klettern, mit Freunden raufen, sich langweilen und dabei unbewusst genau jene Fähigkeiten trainieren, die der Frontalkortex später benötigen wird: Geduld, Frustrationstoleranz, Selbstkontrolle.
Doch unsere moderne Welt ist keine ideale Welt. Sie ist ein Überflussraum voller Reize, eine Dauerflut von Klicks, Likes, Notifications – besonders in der digitalen Sphäre. Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube bieten Kindern und Jugendlichen ein Feuerwerk an Belohnungen, das direkt das Belohnungssystem aktiviert und die Impulskontrolle umgeht.

Literatur
(1): Giedd, J. N., Blumenthal, J., Jeffries, N. O., Castellanos, F. X., Liu, H., Zijdenbos, A., Paus, T., Evans, A. C., & Rapoport, J. L. (1999). Brain development during childhood and adolescence: a longitudinal MRI study. Nature Neuroscience, 2(10), 861–863.; Toga, A. W., Thompson, P. M., & Sowell, E. R. (2006). Mapping brain maturation. Trends in Neurosciences, 29(3), 148–159.
(2): Baumgartner, T., Valko, L., Esslen, M., & Jäncke, L. (2006). Neural correlate of spatial presence in an arousing and noninteractive virtual reality: an EEG and psychophysiology study. Cyberpsychology & Behavior: The Impact of the Internet, Multimedia and Virtual Reality on Behavior and Society, 9(1), 30–45.; Jäncke, L., Cheetham, M., & Baumgartner, T. (2009). Virtual reality and the role of the prefrontal cortex in adults and children. Frontiers in Neuroscience, 3(1), 52–59.; Jäncke, L. (2024). Reifung. In L. Jäncke (Ed.), Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften (pp. 77–110). Hogrefe-Verlag.
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