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Noch nie wurde so viel Musik gehört, wie heutzutage. Musik ist omnipräsent. Wir hören Musik während der Arbeit, während des Autofahrens, beim Einkaufen in Supermärkten und Kaufhäusern oder wenn wir ein Flugzeug besteigen, wenn wir Joggen, zur Arbeit gehen und durch die Stadt schlendern. Musik ist -dank iPod oder iPhone – immer dabei. Die Anziehungskraft von Musik ist offenbar so stark, dass wir heute bei allen möglichen Gelegenheiten Musik hören wollen und können. Neben diesem mobilen Hören von Musik besuchen wir Konzerte, lauschen konzentriert den CD-Einspielungen oder musizieren gar selbst. Etwas Unbekanntes muss an Musik besonders attraktiv sein, sonst würden wir uns diesen „Beschallungen“ nicht so häufig und auch so intensiv aussetzen. Aber was ist daran so interessant und attraktiv, dass wir offenbar Musik so gerne und häufig hören? Worin liegt der „Zauber“ der Musik?


Bedeutung der Musik für den Menschen

Als Wissenschaftler fragt man sich natürlich immer, was die „treibende“ Kraft für die Entwicklung dieser Musikaffinität beim Menschen ist. Als biologisch denkender Mensch ist man schnell geneigt, evolutionäre Mechanismen am Werke zu sehen. Wenn dem so ist, dann muss man sich fragen, was der biologische Vorteil sein könnte, dass Menschen Musik hören und musizieren. Versucht man diese Frage anhand moderner Erkenntnisse aus der Neuropsychologie und der Biologie zu beantworten, dann kann man sieben für das Überleben der Menschen wichtige Eigenschaften herausarbeiten, die mit dem Musikhören und dem Musizieren eng verbunden sind:


1. Musizieren und Musikhören führt zur Synchronisation von sozialen Gruppen. Wenn man mit mehreren Sozialpartnern die gleiche Musik hört und durch diese Musik bei allen Sozialpartnern die gleichen Emotionen ausgelöst werden, dann wird die Isolation des Einzelnen vermieden und man fasst sich als Teil einer Gruppe auf. Balletttänzerinnen und Balletttänzer werden das „Aufgehen“ in einer großen „Figur“ oft erlebt haben. Aber auch der Nichtmusiker kann dieses Phänomen sicher sehr gut nachvollziehen. Denken wir zum Beispiel an die Fan-Gesänge während des Fußballspiels oder die Karnevalslieder während des rheinischen Karnevals.


2. Durch die Musik werden Emotionen ausgelöst, die für die Gruppenbindung wichtig sind (z. B. Annäherung an die Gruppenpartner oder Abkehr von Gruppenfremden). Insofern kann Musik so etwas wie bewusstes und unbewusstes soziales Denken und Handeln auslösen.


3. Durch die oben bereits angesprochene emotionale Synchronisation innerhalb der Gruppe werden soziale Konflikte vermieden oder abgeschwächt. Sind bei den Gruppenmitgliedern die gleichen Emotionen ausgelöst, dann können sich kaum gegensätzliche Emotionen entfalten. Stellen Sie sich vor, sie würden sich auf einer Beerdigung befinden und würden nicht die gleiche Trauer wie die anderen Anwesenden empfinden, dann könnte dies zu Konflikten führen, insbesondere dann, wenn sie auch noch Freude oder gar Verachtung zeigen würden. Geeignete Trauermusik würde dann bei ihnen Trauer auslösen und sie befänden sich dann im gleichen emotionalen Zustand wie die anderen Trauergäste und emotionale Konflikte wären dadurch vermieden.


4. Über musikalische Äußerungen kann man mit den Gruppenmitgliedern kommunizieren, ohne dass man komplizierte Sprachgebilde nutzen muss. Ein herzzerreißendes Liebeslied kann das Herz einer Angebeteten oft schneller öffnen, als die sprichwörtlichen „tausend Worte“. Die Mutter kann ihr Kind durch geeignete Lieder beruhigen oder die Gruppenmitglieder können sich durch aggressive Musik gegenseitig in Kampfstimmung versetzen und ihren Sozialpartnern ihre jeweilige Entschlossenheit mitteilen.


5. Wenn wir uns bewegen, dann kann Musik helfen, dass unsere Bewegungen besser koordiniert werden, weil der Musik-Rhythmus den Bewegungs-Rhythmus leitet. Der Grund dafür ist eine enge funktionelle Verzahnung der Hirngebiete, die mit der Verarbeitung und Kontrolle von Melodien und der Motorik betraut sind.


6. Musizieren primär mit anderen Musikern erfordert Kooperation. Man muss auf seinen Spielpartner eingehen, ihm zuhören, sich auf seine Interpretationen einlassen und gegebenenfalls sich selbst zurücknehmen. Dies bedingt und fördert soziale Interaktionen.


7. Dabei kommt es zum Aufbau von sozialen Beziehungen, was zu einem besseren Verständnis des Kooperationspartners führt, was mit besseren Verhaltensvorhersagen verbunden ist. Alles in allem, wir haben durch das Musizieren eine soziale Beziehung aufgebaut.


Mögen Tiere Musik?

Wenn dies für den Menschen wichtige Eigenschaften der Musik sind, kann man sich fragen, inwieweit sind sie auch bei Tieren anzutreffen. In anderen Worten: Mögen Tiere Musik und musizieren Tiere? Diese Frage ist in einigen wissenschaftlichen Arbeiten recht gut untersucht worden.

Dabei ist deutlich geworden, dass nur der Mensch Musik gegenüber Geräuschen präferiert. Nur der Mensch erfindet ständig neu Musik und verwendet ungeheuer viel Aufwand, um Musikinstrumente zu beherrschen oder Musikstücke zu komponieren. Nur der Mensch erfindet immer neue Möglichkeiten, sich mit Musik zu beschallen und was am wichtigsten ist, nur der Mensch setzt sich mehr oder weniger freiwillig unterschiedlichster Musikbeschallung aus. Tiere machen all dies nicht oder einiges von dem, was ich oben erwähnt habe, nur in außergewöhnlichen experimentellen und damit unnatürlichen Bedingungen.


Viele Tiere verfügen zwar über einen Wahrnehmungsmechanismus, der es ihnen ermöglicht, Musikreize wahrzunehmen, zu unterscheiden und bestimmten Konsequenzen zuzuordnen, aber sie sind nicht zu dem vielfältigen, ja virtuosen Umgang mit Musik in der Lage, wie wir es von den Menschen kennen. Bislang ist noch keine Tierart entdeckt worden, welche bestimmte Musik über andere Musik präferiert, mit großer Mühe komplizierte Musikstücke erfindet, Musikinstrumente spielt, oder sich freiwillig mit verschiedenen Musikstücken beschallen lässt.


Viele Tiere können bestimmte akustische Eigenschaften in Musikstücken entdecken. So gelingt es bereits Goldfischen zu lernen, Barockmusik von Blues zu unterscheiden. Sie entwickeln allerdings keine typischen emotionalen Reaktionen auf diese speziellen Musikgenres und verbinden keine dem Menschen ähnliche Motivationen, Präferenzen, Interpretationen und Gedanken, mit diesen Musikgenres. Sie haben lediglich gelernt, die zu diesen Musikgenres gehörenden akustischen Eigenarten wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden.


Dass Tiere und vor allem Primaten keine Präferenzen für Musik gegenüber anderen Beschallungen zeigen, haben vor einigen Jahren zwei Harvard-Psychologen in einem kleinen Experiment mit Krallenäffchen und Weissbüscheläffchen nachweisen können. Hierzu haben sie eine Apparatur benutzt, die mit zwei Gängen ausgestattet war, die sich v-förmig von einer Startposition nach aussen erstreckten. Am jeweiligen Ende des Ganges waren Lautsprecher angebracht, über welche die Forscher unterschiedliche Musik und Tonfolgen präsentierten. Wurde auf einem Lautsprecher Musik präsentiert, während auf dem anderen Lautsprecher Ruhe herrschte, liefen die Äffchen vorwiegend zu dem Lautsprecher, aus dem keine Musik schallte. Hatten sie zwischen ruhiger oder erregender Musik zu wählen, wendeten sie sich der ruhigen Musik zu. In einer anderen Versuchsbedingung hatten sie sich zwischen langsamen und schnellen Tonfolgen zu entscheiden. Hierbei präferierten sie den Lautsprecher, über den langsame Tonfolgen präsentiert wurden. Offenbar mögen diese Äffchen keine Musik, sie präferieren Ruhe, und wenn sie schon zwischen akustischen Reizen zu entscheiden hatten, dann präferieren sie eher jene mit den langsamen und wenigen Tonfolgen.


Wir mögen das, was wir häufig hören

Dass dies bei 4 Monate alten menschlichen Babys bereits grundsätzlich anders ist, konnten einige weiterführende Arbeiten zeigen. In diesen Arbeiten sassen die Babys auf dem Schoss ihrer Mutter und beschäftigten sich mit Spielzeug, dass vor ihnen platziert war. Rechts und links von ihnen war jeweils ein Lautsprecher angebracht, über die je nach Versuchsbedingung unterschiedliche Melodien präsentiert wurden. Die Babys wandten sich je nach präsentierter Musik dem einen oder anderen Lautsprecher zu. Wurde in einem Lautsprecher konsonante und im anderen Lautsprecher dissonante Musik präsentiert, dann schauten die Babys häufiger und länger zu dem Lautsprecher, aus dem die konsonante Musik erklang.


In ähnlichen Untersuchungen mit 3-4 Jahre alten Kindern zeigte sich, dass Kinder laute und erregende Musik präferieren. Sie offenbaren also ein anderes Präferenzmuster als Äffchen, die ja eher Ruhe präferieren. Im Übrigen hat sich auch gezeigt, dass Kinder recht schnell beginnen, Präferenzen für bereits bekannte Musik zu entwickeln. Sie präferieren jene Musikstücke, die sie häufig gehört haben. Offenbar entfaltet sich unser Musikgeschmack infolge der Erfahrung, im Falle der Kinder sogar nach einfacher Wiederholung desselben Musikstückes. Insgesamt betrachtet scheint beim Menschen Musik anders verarbeitet zu werden als bei Primaten.


Musik und Gänsehaut

Jeder Mensch hat so seine Lieblingsmusik, mit der bei ihm „Gänsehautgefühl“ ausgelöst wird. Dann stehen die Haare auf der Haut senkrecht ab, die Spannung der Muskulatur erhöht sich, die Schweißdrüsenaktivität nimmt zu und die Atemfrequenz nimmt kurzfristig ab, um dann wieder anzusteigen. In solchen Situationen ist auch ein spezielles Nervennetzwerk in unserem Gehirn aktiv, dass wir der Einfachheit halber als „Lustzentrum“ bezeichnen können. In diesem „Lustzentrum“ wird dann ein bestimmter Botenstoff (Dopamin) in großen Mengen ausgeschüttet, der im weiteren Verlauf der Erregungskaskade Glücksgefühle auslöst. Insofern kann bestimmte Musik unser „Lustzentrum“ im Gehirn aktivieren! Interessanterweise kann man ähnliche oder gar die gleichen Reaktionsmuster feststellen, wenn wir eine großartige Belohnung erhalten (unter anderem Geld oder ein Lob, das uns mit Stolz erfüllt). Insofern kann man solche Musik als eine Form der Belohnung auffassen, die es Wert ist, immer wieder anzustreben. Immer dann, wenn wir etwas anstreben, das mit Belohnung verbunden ist oder mit Belohnung verbunden sein könnte, wird dieses „Lustzentrum“ aktiv. Wenn wir also ein Musikstück erwarten, das bei uns einmal Lust ausgelöst hat, dann wird dieses Lustzentrum sozusagen „vorgeglüht“. Das bedeutet, dass in Erwartung eines schönen Musikereignisses das Lustzentrum bereits feuert.


Es bleibt allerdings die Frage offen, welche Musik geeignet ist, bei uns diese neuronalen Aktivierungen im „Lustzentrum“ hervorzurufen. Einige Grundelemente der Musik bergen in sich die Kraft, eher als angenehm oder unangenehm empfunden zu werden. So sind regelmässige Lautmuster, akustische Reize im mittleren Lautstärkebereich, langsam einsetzende und sich verändernde akustische Reize und konsonante Klänge eher geeignet, angenehme Empfindungen auszulösen.


Interessante und angenehme Musik ist aber durch mehr als durch recht einfache akustische Reizcharakteristika gekennzeichnet. Musik ist zumindest in unserer Kultur ein Reizgebilde, das durch die regelmässige Aufeinanderfolge von Tönen und Klängen charakterisiert ist. Diese Regelmässigkeit ermöglicht Vorhersagen über die zukünftigen Klänge. Es werden also Erwartungen geweckt, die erfüllt, teilweise erfüllt oder eben nicht erfüllt werden können. Dadurch kann Spannung aufgebaut werden, die nach „Lösung“ sucht und gegebenenfalls auch zur Spannungslösung führt. Alle diese Phänomene sind mit emotionalen Reaktionen verbunden. Insbesondere spannungslösende Momente in der Musik werden typischerweise als sehr angenehm empfunden. Aber nicht nur die Spannungslösung löst angenehme Zustände aus, sondern auch der ständige Wechsel von Reizmustern, die leichten Abweichungen von der Erwartung und die (wie oben bereits angedeutet) die Nähe zum schon Bekannten.


Musik und das Kino im Kopf

Neben diesen grundsätzlichen akustischen Eigenschaften, welche in der Musik eingebaut sind, können auch noch andere Aspekte der Musik bei uns Emotionen hervorrufen. Musik kann auch mit individuellen Erinnerungen gekoppelt werden. Das können sentimentale Erinnerungen an bestimmte Lebensereignisse sein, die wir mit bestimmten Musikstücken verbinden oder Geschichten, die mit bestimmten Musikstücken untrennbar zusammenhängen. Typische sentimentale Ereignisse sind Jugend- und/oder Kindheitserinnerungen, die mit bestimmten Musikstücken gekoppelt sind. Erinnern nicht noch heute die Songs der Beatles und der Rolling Stones uns Mittelalte an die emotionalen Eruptionen der Jugend? Erinnern Sie sich noch an die Musik, die wir in unserem ersten -ohne unsere Eltern verbrachten – Urlaub oft gehört haben?


Das Hören dieser Musik aktiviert dann automatisch die mit dieser Musik assoziierten Erinnerungen. Hierbei kommt eine besondere Eigenart unseres Gehirns zum Tragen, nämlich die enorme Fähigkeit zur Vernetzung verschiedener Informationen. Dass dies möglich ist, ist der enormen anatomischen und funktionellen Vernetzung des menschlichen Gehirns geschuldet, das wie kein anderes Gehirn (anderer Tiere) in der Lage ist, neuronale Netzwerke über große Distanzen innerhalb des Gehirns miteinander zu verzahnen. Deshalb können wir Melodien mit Geschichten, Ereignissen, Gerüchen und Vorstellungen recht elegant koppeln, sodass wir beim Hören neben dem akustischen Tonstrom auch ein multimodales Kino in unserem Geiste ablaufen lassen können. Je nachdem, welchen multimodalen Strom man in der Lage ist, mit bestimmter Musik ablaufen zu lassen, kann man sogar Lustempfindungen hervorrufen.


Ein Gewitter von Erregungen im Gehirn

Misst man die Hirnaktivierungen beim Hören von Musik zum Beispiel mit dem Elektroenzephalogramm (EEG), erkennt man sich über das Gehirn ausbreitende Erregungswellen, die sich vom Hörkortex ausgehend über das gesamte Gehirn entfalten. Diese Erregungswellen erfassen demzufolge nicht nur den Hörkortex, der die Töne und Melodien verarbeitet, sondern auch den Sehkortex, aber auch viele andere Hirngebiete (z. B. Gedächtnisstrukturen, den Motorkortex und Geruch verarbeitende Gebiete). Es ist kein konstantes, sondern ein dynamisches Aktivierungsmuster wobei sich die Erregungswellen wie Wellen am Strand hin- und her bewegen. Dieses dynamische Aktivierungsmuster birgt einige typische Merkmale in sich, die durch die besonderen Eigenarten der Musik hervorgerufen werden (Lautstärke, Übergänge, Akzente). Es sind aber auch sehr individuelle Erregungsanteile zu erkennen, die durch die jeweiligen individuellen Erfahrungen der Person erklärt werden können. Denn jede Person hat seine individuelle Erfahrung mit der jeweiligen Musik gemacht. Wenn ich zum Beispiel von Vivaldi „Herbst“ aus den „Vier Jahreszeiten“ höre, dann erinnere ich die Zeit, die ich während des „Indian-Summers“ in Boston vor langer Zeit verbracht habe. Wir haben damals intensive Wanderungen durch diese wunderschönen Wälder unternommen. Immer wenn ich mich daran erinnere, werden diese wunderschönen und eindrücklichen Bilder wachgerufen. Das bedeutet, dass ich beim Hören dieser Musik vor meinem inneren Auge die bunten Blätter dieser Herbstwälder sehe. Ich verspüre den Geruch der von den Bäumen gefallenen und jetzt auf dem Boden faulenden Blätter in meiner Nase. Ich erinnere die Erschöpfung meiner Muskulatur, die sich nach den intensiven Wanderungen eingestellt hat.


All diese Erinnerungen und Empfindungen werden durch Töne, Klänge und Klangfolgen wachgerufen und erzeugen bei mir sehr lebhafte Wahrnehmungen. Jede dieser individuellen Erfahrungen werden durch unterschiedliche Netzwerke in meinem Gehirn verarbeitet und generiert. Insofern ruft diese Musik ein ganz individuelles Muster an Hirnaktivierungen hervor. Bei anderen Menschen wird der „Herbst“ von Vivaldi ein anderes Hirnaktivierungsmuster auslösen, weil jeder seine (oder keine) individuelle Erfahrungen mit dieser Musik gemacht hat. Kurzum, Musik kann ein „Gewitter“ von neuronalen Erregungen in unserem Gehirn auslösen, dass nicht lokal an einer Stelle verharrt, sondern grosse Teile des Gehirns erfasst.


Der Mensch verfügt im Gegensatz zu den Primaten und allen anderen Tieren auch über die Möglichkeit, Musik mit komplexen Geschichten zu assoziieren, die vielfältige Interpretationen ermöglichen. Mit Musik gelingt es uns auch, Geschichten neu zu erfinden, Querverbindungen zur Realität zu ziehen, zu träumen, die Realität zu simulieren oder einfach auch Situationen einfach zu verstehen. Mit diesen Fähigkeiten können wir uns in die Singspiele mit ihren teilweise komplexen sozialen Beziehungen hineinversetzen, den Ablauf der sozialen Interaktionen vorhersehen, bewerten, neu deuten und diese dann mit unseren eigenen sozialen Beziehungen vergleichen. Eine Oper kann dann zu einer virtuellen sozialen Trainingswelt werden, in die wir uns hineinversetzen, gemeinsam und stellvertretend mit den Protagonisten leiden und uns mit ihnen freuen.


Der Rausch der Bewunderung

Neben den Kräften, die durch die Musik selbst hervorgerufen werden, kann uns das eigentliche Musizieren, also das Meistern eines Instrumentes Bewunderung und Faszination entlocken. Wenn virtuose Pianisten ihrem Instrument schier unmögliche Klangfolgen entlocken oder Eric Clapton wie kein Zweiter mit atemberaubender Geschwindigkeit auf seiner E-Gitarre unglaubliche Klangmuster produziert, dann erzeugen diese außergewöhnlichen Leistungen Bewunderung gerade bei jenen, die sich auch schon an diesen Instrumenten versucht haben und nur zu genau wissen, wie schwierig ja sogar „unmöglich“ dies alles sein muss. Ähnliches tritt gelegentlich auch beim virtuosen Jazz-Improvisieren auf. Die produzierten Klänge sind alles andere als konsonant, meistens sogar dissonant, allerdings werden sie mit einer ungeheuren Virtuosität generiert, die den Betrachter und Zuhörer in pures Erstaunen versetzt. Auch die unerwarteten Wendungen der Klangfolgen können Überraschung, ja sogar Erleichterung beim Zuhörer auslösen. Bewunderung für herausragende Leistungen ist das Resultat eines in uns fest verankerten Mechanismus, der möglicherweise wichtig ist, um soziale Strukturen zu stabilisieren. Demjenigen, der besondere Leistungen erbringt, werden gerne besondere Positionen in der sozialen Rangordnung zugeschrieben und dann identifiziert man sich gerne mit dieser herausgehobenen Position. Dann „belohnen“ wir uns quasi selbst, wenn dieser Meister eine besondere Leistung erbringt. Faszination wird dann ausgelöst, wenn wir einem Meister seines Faches bei der Ausübung seines Handwerkes zuschauen.


Die Vielfalt des Musikhörens

Musikhören ist ein komplexer Prozess, der bei uns nicht immer gleichartig abläuft. Je nach Stimmungslage oder Situation entfalten sich bei uns unterschiedliche Hörzugänge. Je nach gewähltem Hörzugang wenden wir uns unterschiedlicher Musik zu und nehmen diese auch ganz unterschiedlich wahr. Grob kann man zwischen „motorischem Hören“ (zum Beispiel, wenn man tanzen will), „kompensatorischem Hören“ (zur Regulation von Emotionen, zum Beispiel zur Stimmungsaufhellung), „diffusem Hören“ (beiläufiges Musikhören), „sentimentalem Hören“ (s.o.), „emotionalem Hören“ (emotionale und gefühlvolle Hingabe beim Musikhören) und „distanziertem Hören“ (dies ist ein geistig-intellektueller Zugang zur Musik). Bei einigen Hörzugängen ist es offensichtlich, dass unser „Lustzentrum“ direkt aktiviert werden kann, bei anderen eben nicht oder eher indirekt. So wird beim „diffusen Hören“ das emotionale System kaum ansprechen, außer man wechselt vom „diffusen“ zum „emotionalen Hören“. Beim „distanzierten Hören“ kann sich infolge der intellektuellen Durchdringung des Gehörten ein befriedigendes Gefühl eintreten, das uns für das errungene Verständnis der Musik quasi belohnt. Dies könnte zum Beispiel stattfinden, wenn man die musikalischen Motive in Wagner-Opern entdeckt und ihre Entfaltung während des Musikstückes nachvollziehen kann. Dann ist die Belohnung eher eine Folge der geglückten intellektuellen Interpretation und nicht durch das akustische Ereignis an sich hervorgerufen worden.


Vielfalt als Quelle des Zaubers

Die Vielfalt der Möglichkeiten, die unser Gehirn uns anbietet, mit Musik unterschiedlicher Genres umzugehen, ist faszinierend. Faszinierend ist allerdings auch, welche Vielfalt uns die Musik eröffnet, sie zu verarbeiten. Diese Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Umgang mit Musik ist m. E. eine der Grundlagen für das Verständnis des „Zaubers der Musik“. Kaum ein kultureller Reiz bietet so viele Nutzungsmöglichkeiten. Wir können uns diesem Reiz ohne intellektuelle Mühe emotional hingeben oder ihn intellektuell interpretieren. Wir können ihn aber auch verwenden, um uns an frühere schöne Ereignisse zu erinnern oder uns mit Sozialpartnern zu synchronisieren, indem wir mit ihnen singen, tanzen oder musizieren. Die Vielfalt der Musik ist die Quelle der Interpretation, denn sie bietet unserem unglaublichen Interpretationsorgan Gehirn unendliche viele Möglichkeiten, sich in Interpretation zu üben.


 

Dies war im Wesentlichen meine Eröffnungsrede zu den Luzerner Festspielen im August 2014. Diese Rede wurde auch in der NZZ am Sonntag abgedruckt. Den oben dargestellten Text habe ich nur leicht geändert. Anlässlich meines Vortrages an der Veranstaltung "Live Music Now" in Wien erreichten mich viele Nachfragen bzgl. dieser Rede. Aus diesem Anlass habe ich mir erlaubt, diese heir zu veröffentlichen.

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Unabhängige und vielfältige Informationsquellen


In meinem letzten Buch „Aus der Steinzeit ins Internet“(1) habe ich mich hauptsächlich mit den Problemen des World Wide Webs beschäftigt. Dabei ging es mir vor allem um die Darstellung der evolutionären Verhaltensgrundlagen und der elementaren Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Beides passt nicht zu den Anforderungen der modernen Internetwelt. Wir neuzeitlichen Menschen sind für andere Lebensumgebungen angepasst.


Die moderne Welt mit ihren überbordenden Informationsmengen und der explodierenden Weltbevölkerung ist positiv formuliert eine der großen Herausforderungen für den modernen Menschen. Wird der moderne Mensch diese „harte Nuss“ meistern oder wird er an ihnen zerbrechen und gar untergehen? In diesem Buch habe ich mit dem Zweifel gespielt, dass wir es nicht schaffen werden, uns mit der aktuellen Welt konstruktiv auseinanderzusetzen. Ich bin besorgt, dass der moderne Mensch aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie betrachtet keine evolutionsstabile und -erfolgreiche Spezies ist. Erfolgreich in diesem Sinne ist die Kakerlake, die mit gleichem Körperbau und Verhalten seit circa 700 Millionen Jahren die Welt bevölkert. Ob der Homo sapiens dies schaffen wird, ist aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich.


Der Homo sapiens existiert auf dieser Welt weniger als 200.000 Jahre und wäre bereits vor 100.000 Jahren fast ausgestorben. Auch der erste Mensch ist im Vergleich zum Alter der Erde (circa 4,5 Milliarden Jahre) mit seinen circa 4 Millionen Jahren jung. Eigentlich existiert der Mensch, auch der prähistorische Mensch, noch nicht mal für die Dauer eines Wimpernschlags bezogen auf das Alter der Welt. Das Internet und die damit verbundene moderne Welt kann man als einen Angriff auf die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens betrachten.


Obwohl ich die Zukunft des Menschen pessimistisch einschätze, sehe ich dennoch positive Ansätze für die Zukunft des Menschen. Dies sind günstige Begleiterscheinungen der modernen digitalen Welt, über die ich in diesem Blog regelmäßig diskutieren werde. Wie vieles im Leben sind Alltagsphänomene mit negativen und positiven Aspekten verbunden. In diesem Blog konzentriere ich mich nun auf die hoffnungsfrohen Aspekte. Diese günstigen Aspekte sind, wie wir sehen werden, nur dann zu genießen, wenn wir auch lernen, sie zu nutzen und vor allem auch zu finden. Wie man sehen wird, benötigen wir dazu etwas, was ich in meinem Buch „Von der Steinzeit ins Internet“ immer wieder betone, nämlich eine bestimmte Form der Selbstdisziplin, die in unserem Impulskontrollsystem vom Frontalkortex gesteuert wird.


Unabhängige Informationen

Ich gehöre noch zu einer Generation, die mit einer überschaubaren Auswahl von Printmedien und Fernsehsendern aufgewachsen ist. Der Spiegel, die FAZ, die ZEIT, gelegentlich auch die Süddeutsche Zeitung und als Lokalblätter die Rheinische Post und der Generalanzeiger waren die Zeitungen, die mich in meiner Jugend, während der Schulzeit und bis ins frühe Erwachsenenalter begleitet haben. Montags war immer Spiegelzeit und ich fieberte den neuesten Enthüllungen, politischen Analysen sowie wissenschaftlichen Berichten entgegen. Der Donnerstag gehörte der ZEIT mit ihrem tollen Feuilleton und den eleganten Essays aus der Feder sachkundiger und bekannter Politjournalisten. Nebenbei erfuhr man dann auch etwas über den akademischen Stellenmarkt. Die wissenschaftlichen Beiträge im Feuilleton waren meistens hervorragend, gelegentlich sogar brillant. Das Fernsehen bescherte uns sachliche Reportagen, Nachrichten und interessante Diskussionsrunden. Ich muss gestehen, dass ich mich damals (das hört sich so historisch an) im Hinblick auf Informationsvermittlung und politische Analysen gut aufgehoben fühlte. Ich vertraute diesen Qualitätsmedien zutiefst. Sie waren für mich Institutionen. Selten bezweifelte ich die Seriosität und Korrektheit der vermittelten Informationen.


Damals war auch nicht alles perfekt, aber ich hatte zumindest den Eindruck, dass es gut sei. Man merkte bereits damals, dass insbesondere der deutsche Journalismus sich eher als Gesinnungsjournalismus verstand. Journalisten zeigten damals schon „Haltung“ und demonstrierten da und dort offen ihre persönliche Meinung. In der englischen Presse, zumindest in der Qualitätspresse, wird bis heute zwischen Meinung und sachlicher Berichterstattung sauber getrennt. Bei der NZZ findet man diese Trennung bis heute. In deutschen Medien war diese Trennung nicht so deutlich. Die Darstellung von Meinung und Fakten war nie wirklich getrennt. Nur haben wir das damals nie wirklich bemerkt, denn oft waren wir ja der gleichen Meinung wie viele der Journalisten. Erst Jahre später erkannte ich oft, dass meine Meinung und die vieler Journalisten aus einer anderen Perspektive falsch oder zumindest verdreht war. Aber uns standen nur diese Qualitätskriterien zur Verfügung. Schon damals betrachteten wir die Welt durch den Filter der journalistischen Bearbeitung.


Heute ist die Informationswelt grundlegend anders. Wir ersticken zwar in der Informationsflut, aber in dieser Flut findet man da und dort wahre Schätze. Mittlerweile etablieren sich eigenständige YouTube-Kanäle, einzelne Zeitungen etablieren per Streaming Talkshows und Journalisten unterschiedlicher politischer Färbung präsentieren per YouTube spezielle Formate. Mittlerweile existieren auch eigenständige digitale Zeitungen und Foren, die das politische und gesellschaftliche Geschehen aus ganz abwechslungsreichen Perspektiven beurteilen und diskutieren.


Wenn man will, kann man sich heute vielfältig informieren. Man ist in der Lage, sich die unterschiedlichsten Interpretationen und Positionen zu ein und demselben Sachverhalt zu Gemüte zu führen. Das mag helfen, sich eine differenzierte Meinung zu bilden. Aber es ist nicht unproblematisch, vor allem, wenn man sich im Dunstkreis seiner schon geformten Meinung bewegt. Dann konsumiert man nur jene Informationen, welche die eigene Betrachtungsweise bestätigen. Das ist natürlich nicht besonders hilfreich, sondern führt zu einer Verfestigung bereits vorgefasster Meinungen und Sichtweisen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Wenn es einem aber gelingt, verschiedene Informationslager miteinander zu vergleichen, dann kann schon etwas Gutes dabei rauskommen. Im Grunde ist dies der ideale Weg, um eigene Ansichten der Welt zu entwickeln. Das ist heutzutage mittels der verschiedenen Kommunikationskanäle im Internet möglich.


Diese positive Vielfalt von Informationen findet man auch in anderen Bereichen. Mittlerweile existieren YouTube-Kanäle über Randthemen, die ein zu kleines Publikum interessieren, um von Standardmedien bedient zu werden. Heute findet man erfolgreiche YouTube-Kanäle, die Füllhalter, Notizbücher, Krankheiten, Reisen, fremde Orte und Landschaften und was weiß nicht was besprechen und diskutieren. Ähnlich vielfältig sind manche Blogs und Internetzeitungen über medizinische und historische Themen. Das Internet entwickelt sich zum universellen Lehrmeister für alles. Letztlich belehrte mich mein Sohn mit folgendem Satz: „Hast Du ein Problem, dann findest Du die Antwort auf YouTube“. Recht hat er. Man kann über das World Wide Web nicht nur lernen, wie man Differenzialgleichungen löst, sondern auch erfahren, wie man ein Baguette oder ein Croissant herstellt. Das Internet wird zum individuellen Lehrmeister für nahezu alle Themen. Das sind doch positive Entwicklungen, die wir zur Entfaltung unserer Persönlichkeit und zur Anreicherung unseres Wissens nutzen können oder besser gesagt, nutzen sollten.


Die sinnvolle Nutzung des Internets erfordert allerdings psychische Fähigkeiten, die in der heutigen Zeit gelegentlich als uncool aufgefasst werden. Man muss lesen und Texte verstehen können. Auch die Gedächtnisfähigkeiten sind gefragt. Ohne dass wir diese Informationen behalten, funktioniert nichts und wir können davon nicht profitieren. Am wichtigsten ist aber, dass wir uns konzentriert mit den Informationen beschäftigen. Dazu benötigen wir Selbstdisziplin, Aufmerksamkeit, Fokussierung auf das Wesentliche und ein gewisses Ausmaß von Impulskontrolle. Alles psychische Fertigkeiten, über die bereits die erfolgreichen alten Ägypter, Griechen und Römer verfügten. Denn ihre Gehirne waren nicht anders, als unsere Gehirne. Vor allem verfügten auch sie über einen Frontalkortex, mit dem sie ihre Selbstdisziplin und Aufmerksamkeit entfalten lassen konnten.


1) Jäncke, L. (2021). Von der Steinzeit ins Internet: Der analoge Mensch in der digitalen Welt. Hogrefe AG.

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1923 beschrieb der französische Neurologe und Psychiater Joseph Capgras eine merkwürdige Erkrankung, die als Capgras-Syndrom in die Literatur eingegangen ist (1). Er beschrieb eine Patientin, Madame M., die lebhafte und skurrile Illusionen hatte. Sie gab an, dass ihr Ehemann, ihre Kinder und ihre Nachbarn durch andere Personen ersetzt worden seien. Zudem würden die Doppelgänger gelegentlich durch andere Doppelgänger ersetzt.


In der Folgezeit wurden Capgras-Patienten beschrieben, die sich von diesen Illusionen derart belästigt fühlten, dass sie sogar bereit waren, diese Doppelgänger zu ermorden. In der Regel werden bei dieser Störung nahestehende Verwandte und Personen, mit denen man emotional eng verbunden ist, illusionär durch andere Personen ersetzt.


Ein spektakulärer, aber tragischer Capgras-Fall wurde 1999 vor einem Gericht in Cardiff verhandelt. Ein Lehrer namens Alan Davis entwickelte nach einem Autounfall die Überzeugung, dass seine Ehefrau Christine bei dem Unfall ums Leben gekommen sei, was de facto aber nicht der Fall war. Die Frau, mit der er jetzt zusammenlebte, behauptete er, wäre nicht seine Ehefrau, sondern eine Betrügerin, die sich als seine Ehefrau ausgeben würde. Das Zusammenleben mit ihr wäre für ihn höchst unangenehm und unerwünscht. Er war felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau gestorben sei, und ließ sich durch kein Argument von seiner Überzeugung abbringen. Der im Gerichtsverfahren tätige psychiatrische Gutachter attestierte dem Lehrer daraufhin das Capgras-Syndrom. Trotz mehrjähriger psychotherapeutischer Behandlung konnte Davis nicht von der Wahnvorstellung geheilt werden, und er verklagte den unfallverursachenden Fahrer auf Schmerzensgeld für die ihm zugefügten Leiden. Das Gericht sprach ihm 130’000 Pfund zu. Diese bizarre Form der Illusion ist zum Glück aussergewöhnlich, aber dennoch eine interessante Blüte menschlicher Interpretationsfähigkeit (2).


Man kann emotionale Reaktionen sehr einfach mittels Veränderung der Hautleitfähigkeit messen. Dazu bringt man Elektroden an der Handinnenfläche an und misst damit die Aktivität der Schweißdrüsen. Selbst bei der kleinsten emotionalen Erregung verändert sich die Schweißdrüsenaktivität. Wenn gesunde Menschen Bilder von Verwandten oder Freunden sehen, dann ist diese Aktivität im Vergleich zur Präsentation neutraler Bilder deutlich erhöht. Bei Capgras-Patienten bleibt dieser Effekt aus: Offenbar lösen bei ihnen die Darstellungen von bekannten Personen keinerlei emotionalen Reaktionen aus!


Aber was ist die Ursache dieses merkwürdigen, aber gleichsam interessanten Syndroms? Einige vermuten, dass die funktionelle Verbindung zwischen Gesichtswahrnehmungs- und emotionsverarbeitenden Gehirngebieten gestört sei. Diese Erklärung leuchtet zwar ein, kann allerdings nicht erklären, dass es andere Patienten gibt, die ebenfalls unter einer Entkopplung dieser Hirngebiete leiden, aber nicht an einem Capgras-Syndrom erkranken.


Wahrscheinlich ist bei Capgras-Patienten ein rechtshemisphärisches Netzwerk gestört, das den sogenannte temporoparietalen Übergangsbereich (Temporoparital Junction, TPJ) einschließt (siehe Abbildung 1). Dieses Hirngebiet befindet sich zwischen dem unteren Parietallappen und den angrenzenden hinteren Temporallappen. Es gilt als das Netzwerk, das im weitesten Sinne auf Gedankenlesen (Mind Reading), aber auch in das Erkennen des Selbst und fremden Personen spezialisiert ist. Es ist besonders dann aktiv, wenn wir uns in andere Personen hineinversetzen, um ihre Absichten und Gedanken zu erkennen.



Abbildung 1: Rechtsseitiges Netzwerk, das in das Erkennen des Selbst eingebunden ist (3). TPJ: temporo-parietale Übergangsregion, Gsm: Gyrus supramarginalis, DLPFC: dorso-lateraler Präfrontalkortex, VLPFC: ventro-laterale Präfrontalkortex, OFC: Orbitofrontalkortex.


Ist dieses Netzwerk gestört, kann es zu einer Reihe von neuropsychologischen Störungen kommen, welche die egozentrische (auf das Selbst bezogen) und allozentrische (auf die Außenwelt bezogen) Wahrnehmung beeinflusst. Durch die Beeinträchtigung dieses rechtsseitigen Netzwerks gewinnt das voll funktionsfähige linksseitige Netzwerk quasi die "Oberhand". Da dieses Netzwerk eine Neigung zur Interpretation verfügt, werden Interpretationen gestartet, die letztlich zu Fehlinterpretationen führen. Eine Variante davon ist das Capgras-Syndrom.


Abbildung 2: Darstellung beider Hirnhemisphären. Die linke ist eher interpretationsgeneigt, während die rechte eher wahrnehmungsnah agiert (3).


Wir können die Welt im Allgemeinen und andere Menschen im Speziellen in zweierlei Art und Weise wahrnehmen: in einer egozentrischen und einer allozentrischen Rezeption. Bei der egozentrischen Wahrnehmung beurteilen wir die Welt und die anderen Menschen aus der Perspektive unseres zentralen Egos. Wir beziehen alle Urteile auf einen Bezugspunkt, der in uns liegt (eben dem Ego oder dem Selbst).


Wenn wir Menschen beurteilen, kann das egozentrische System in zwei unterschiedlichen Modi arbeiten: im Selbst-Modus und im Anderen-Modus. Im Selbst-Modus repräsentiert das System meine Gedanken und meinen Geist (Verstand, Psyche, Seele), der in meinem Körper lokalisiert ist. Im Anderen-Modus repräsentiert dieses System „andere Leute“ in fremden Körpern sowie deren Gedanken. In diesem Modus fungiert das egozentrische System als Simulation der anderen Person, die uns interessiert: Wir versetzen uns in diese Person, stellen uns das egozentrische System der anderen Person vor und halten sie für nett, freundlich oder unsympathisch.


Beurteilen wir andere Menschen mittels des allozentrischen Bezugssystems, dann beziehen wir die Urteile über die anderen Personen nicht auf uns, und wir simulieren auch nicht deren egozentrisches System. Deshalb versetzten wir uns auch nicht in die Person. Wir beurteilen diese Person quasi von außerhalb, so als würden wir ihr Verhalten wie ein neutraler Wissenschaftler messen. Wir können so trotzdem feststellen, dass die Person objektiv nett oder aggressiv ist, aber wir stellen diese Eigenschaften fest, ohne sie zu simulieren und mit uns in Verbindung zu bringen. Wir nennen diese Betrachtungsebene auch die Dritte-Person-Perspektive.


Bei den Capgras-Patienten gelingt die egozentrische Betrachtung der anderen Person nicht mehr. Sie sind nicht mehr zur egozentrischen Betrachtung im Anderen-Modus in der Lage. Aufgrund der Unfähigkeit, dieses System zu nutzen, haben sie auch keinen Zugriff mehr auf die gespeicherten Informationen und Einschätzungen der ihnen vertrauten Person. Sie erkennen die vertraute Person, es gelingt ihnen aber nicht, die egozentrischen Informationen abzurufen, also ein Gefühl der Nähe zu empfinden. Deshalb wird aus dem Gedächtnis eine logische Erklärung abgerufen: Eine Person, die man zwar erkennt, aber die in uns keine Emotionen auslöst, kann nur ein Betrüger oder Doppelgänger sein, der vorgibt, diese Person zu sein.


Was lehrt uns dieses merkwürdige, aber gleichsam interessante Syndrom? Das Erkennen von uns selbst und dem Einordnen anderer Personen ist an die Funktion eines bestimmten Hirnnetzwerkes gebunden. Seien wir froh, solange unser Gehirn noch funktioniert, um uns selbst und andere zu erkennen.


Quellen:

  1. Capgras,J.and Reboul-Lachaux,J.(1923)L’illusion des sosies dans un delire systematise chronique. Bull. Soc. Clin. Med. Ment. 11, 6–16.

  2. de Bruxelles, S. (1999, 5 March). Crash victim thinks wife is an imposter. The Times, p.7.

  3. Jäncke, L. (2016). Ist das Hirn vernünftig?: Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Hogrefe-Verlag.

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