Die Weisheit der Vielen – warum der Schwarm nicht immer klüger ist
- ljaencke9
- vor 2 Tagen
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Der Schwarm wäre vielleicht klug – wenn er nicht ständig in dieselbe Richtung schwimmen würde.
Es war ein Ochs, der Geschichte schrieb. Genauer gesagt: ein ausgestopfter Ochse auf einer Viehmesse in Plymouth im Jahr 1906. Dort ließ der britische Wissenschaftler Francis Galton rund 800 Besucher schätzen, wie viel das Tier wohl wiegt. Man mag meinen, das könne nur im Chaos enden. Doch Galton tat etwas Überraschendes: Er berechnete den Durchschnitt aller Schätzungen – und siehe da: Der lag mit fast schon unheimlicher Präzision nur ein paar Pfund neben dem tatsächlichen Gewicht.
Galtons Erkenntnis: Auch wenn Einzelne sich gewaltig irren, ist die Masse erstaunlich treffsicher, wenn man sie aggregiert. So wurde aus einem Ochsenschätzwettbewerb ein Paradebeispiel für das, was wir heute als „Wisdom of the Crowd“ kennen – auf Deutsch: „Die Weisheit der Vielen“.
Warum viele Köpfe oft klüger sind als einer
Die Grundidee ist charmant und demokratisch zugleich: Wenn viele Menschen unabhängig voneinander eine Entscheidung treffen oder eine Schätzung abgeben, ergibt sich – statistisch gesehen – ein ziemlich guter Mittelwert. Man könnte sagen: Die Fehler der Einzelnen heben einander auf, und was übrig bleibt, ist erstaunlich nahe an der Wahrheit.
Damit das funktioniert, braucht es aber ein paar Grundbedingungen – und genau hier wird es interessant:
Unabhängigkeit: Jeder denkt für sich – ohne Beeinflussung durch Meinungen anderer.
Diversität: Unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen und Denkweisen treffen aufeinander.
Dezentralität: Niemand gibt den Ton an, niemand steuert zentral.
Aggregationsmechanismus: Am Ende braucht es ein Mittel, die vielen Urteile zusammenzuführen – etwa durch einen Durchschnitt, eine Abstimmung oder ein Modell.
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann der Schwarm tatsächlich glänzen – sei es bei Schätzfragen, Börsenprognosen oder der Wikipedia-Wissenssammlung.
Und wann wird aus Schwarmintelligenz Schwarmdummheit?
Sobald diese Bedingungen nicht mehr gelten. Und das ist leider ziemlich oft der Fall – gerade in unserer heutigen digitalisierten, vernetzten, medial aufgeheizten Welt.
Denn: Unabhängigkeit? Schwer zu bekommen. Wer heute seine Meinung äußert, hat meist vorher schon Meinungen von anderen gehört, gelesen oder durch Algorithmen serviert bekommen. In sozialen Medien sorgt das „Gefällt mir“-Prinzip dafür, dass wir Meinungen folgen, die wir ohnehin teilen. Der Rest wird weggefiltert. Ergebnis: Echokammern und kollektive Selbstbestätigung.
Diversität? Fehlanzeige, wenn sich alle in denselben digitalen Blasen bewegen.
Dezentralität? Wenn Influencer, Leitmedien oder populistische Lautsprecher dominieren, bleibt vom dezentralen Denken oft nicht viel übrig.
Aggregation? Oft schlicht falsch: Der lauteste Kommentar wird für die klügste Meinung gehalten – eine gefährliche Verwechslung.
Was bleibt?
Die „Weisheit der Vielen“ ist kein Naturgesetz, sondern ein statistisches Wunder, das nur unter bestimmten Bedingungen funktioniert. Und genau diese Bedingungen sind heute zunehmend schwer zu erfüllen. Der moderne Mensch ist selten wirklich unabhängig von seinem Urteil – selbst wenn er das gerne von sich glaubt.
Vielleicht wäre es an der Zeit, Galtons Messe-Experiment zu wiederholen – aber diesmal mit einem digitalen Ochsen und einem Online-Kommentarbereich. Es wäre spannend zu sehen, ob der Schwarm auch dann noch weiß, was er tut.
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