Lesen – eine vergessene Kulturtechnik?
- ljaencke9
- 31. Mai
- 3 Min. Lesezeit

Warum selbst einfache Texte immer häufiger zum Problem werden – und was wir zum Verstehen wirklich benötigen.
Wir leben in einer Welt, in der man den Eindruck gewinnen könnte, Lesen sei kinderleicht. Schließlich werden wir von Texten überflutet: von Werbeslogans, News-Tickern, WhatsApp-Nachrichten bis zu den scheinbar allgegenwärtigen Textschnipseln in sozialen Medien. Doch wer einmal versucht hat, einem Jugendlichen eine Bedienungsanleitung zu erklären, mit jemandem einen Mietvertrag durchzugehen oder gar über einen anspruchsvollen Zeitungsartikel zu diskutieren, merkt schnell: Lesen ist mehr als Buchstaben entziffern.
Lesen heißt Verstehen
Lesen bedeutet nicht, Silben aneinanderzureihen oder Wörter akustisch korrekt vorzulesen. Lesen heißt verstehen, was da steht. Und dieses Verstehen ist ein erstaunlich komplexer Vorgang, der im Gehirn verschiedenste Netzwerke beansprucht: vom Sehzentrum über das Sprachverarbeitungssystem bis zum Arbeitsgedächtnis und den Assoziationsarealen, in denen Weltwissen gespeichert ist. Kurz: Lesen ist ein Höchstleistungsvorgang des Gehirns, der gelernt, trainiert und gepflegt werden muss.
Unterschiedliche Texte, unterschiedliche Anforderungen
Nicht jeder Text stellt dieselben Anforderungen. Wer die Bild-Zeitung liest, braucht hauptsächlich grundlegende Lesefertigkeiten, ein bisschen Weltwissen und ein Gefühl für emotional aufgeladene Sprache. Wer dagegen zur NZZ greift, muss deutlich mehr leisten: komplexe Satzstrukturen entschlüsseln, abstrakte Inhalte erfassen, kontextuelles Wissen aktivieren und nicht zuletzt in der Lage sein, Ironie, Argumentationslinien und logische Widersprüche zu erkennen.
Bei einem Vertrag oder einem medizinischen Beipackzettel kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Fachsprache. Wer die Formulierungen dort nicht versteht, läuft Gefahr, Entscheidungen zu treffen, deren Konsequenzen er nicht überschaut. Auch eine Bedienungsanleitung verlangt mehr als Lesefähigkeit – nämlich logisches Denken, Geduld und manchmal sogar räumliches Vorstellungsvermögen.
Und wie sieht es bei einem Roman oder Sachbuch aus? Auch hier ist mehr gefordert als stilles Lesen. Empathie, Perspektivübernahme, ein Gespür für Erzähltechniken oder die Fähigkeit, abstrakte Zusammenhänge zu erkennen und mit dem eigenen Wissen zu verknüpfen, sind notwendig. Lesen heißt hier auch: mitdenken, mitfühlen, mitentwickeln.
Was benötigt man also, um lesen zu können?
Ganz konkret braucht es:
Leseflüssigkeit: Die Fähigkeit, Texte flüssig, schnell und korrekt zu lesen – das ist die Basis.
Wortschatz und Sprachverständnis: Ohne ein solides sprachliches Fundament bleibt der Zugang zu komplexeren Inhalten verschlossen.
Kohärenzbildung: Einzelne Sätze müssen zu einem sinnvollen Ganzen verbunden werden. Das verlangt aktives Mitdenken und ein gut funktionierendes Arbeitsgedächtnis.
Weltwissen: Ein Text ist kein in sich geschlossenes System. Vieles erschließt sich nur über das, was wir schon wissen – oder nicht wissen.
Kritisches Denken: Besonders bei Informationen aus dem Netz oder in der Presse ist es entscheidend, zwischen Fakten, Meinungen und Manipulation zu unterscheiden.
Ein Blick in die Realität
Schauen wir in die Bildungsstatistiken, dann wird klar: Diese Fähigkeiten sind keineswegs selbstverständlich. Millionen Erwachsene gelten als funktionale Analphabeten. Jahr für Jahr fallen Schüler bei PISA durch, weil sie einfache Texte nicht verstehen. Polizeischulen berichten, dass Bewerber an Lückendiktaten scheitern. Und im Alltag erleben wir es täglich: Wer Verträge, Anleitungen oder Behördenpost nicht versteht, gerät schnell ins Abseits.
Lesen ist keine Selbstverständlichkeit – sondern eine kulturelle Höchstleistung
Lesen ist mehr als Technik – es ist Kultur. Eine Kulturtechnik, die Denken ermöglicht, Selbstreflexion, Wissenschaft und Demokratie. Eine Gesellschaft, die nicht mehr richtig lesen kann, verliert ihre geistige Infrastruktur. Es geht dabei nicht um nostalgische Rückblicke auf bessere Zeiten, sondern um Zukunftsfähigkeit.
Fazit
Wenn wir möchten, dass Menschen ihre Welt verstehen, ihre Rechte wahrnehmen und an einer komplexen Gesellschaft teilhaben können, müssen wir in Lesekompetenz investieren. Nicht oberflächlich, sondern tiefgreifend. Denn: Wer nicht lesen kann, kann nicht denken. Und wer nicht denken kann, wird gedacht.
Siehe hierzu auch das Kapitel „Lesen“ im Lehrbuch von Lutz Jäncke (2024). Einführung in die kognitiven Neurowissenschaften. Hogrefe-Verlag Göttingen.
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