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Lesen. Schreiben. Denken. Und was wir gerade verlieren

  • ljaencke9
  • 30. Mai
  • 2 Min. Lesezeit

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Sprachverlust in der Schriftkultur: Eine stille Erosion

Die Schrift ist eine der folgenreichsten Erfindungen der Menschheit. Sie war nie bloß ein Kommunikationsmittel, sondern diente von Beginn an der Transformation des Denkens, dem Aufbau von Zivilisationen und der Weitergabe kulturellen Wissens über Generationen hinweg. Dass das Lesen und Schreiben heute gefährdet sein könnte – nicht durch äußere Feinde, sondern durch schleichenden Kompetenzverlust –, ist eine stille, aber ernst zu nehmende kulturelle Zäsur.


Ein Blick in die Statistiken und Beobachtungen der letzten Jahre lässt aufhorchen: Immer mehr junge Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz scheitern an der Beherrschung der deutschen Sprache – und zwar nicht im metaphorischen, sondern im ganz praktischen Sinn. Sie können einfache Texte nicht sinnerfassend lesen, beherrschen grundlegende Orthografie nicht und sind außerstande, schriftlich klar zu formulieren.


Was einst zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten einer hoch entwickelten Gesellschaft zählte, ist offenbar keine Selbstverständlichkeit mehr. Polizeibehörden in mehreren Bundesländern in Deutschland melden hohe Durchfallquoten bei Sprachtests. In Hamburg scheiterten 2024 rund 65 % der Bewerber am Lückendiktat. Ähnliches gilt für Brandenburg, Schleswig-Holstein und Bayern (1). Es geht hier nicht um höhere Semantik oder stilistische Eleganz – sondern um das Einsetzen fehlender Wörter und Satzzeichen. Wer das nicht kann, ist nicht ausbildungsfähig. Und die Polizei ist nur ein Spiegel: Auch in Kindergärten, Grundschulen und Berufsschulen wird das Problem sichtbar. In Augsburg z. B. benötigen über 40 % der Vorschulkinder Sprachförderung. Ein Drittel versteht den Unterricht nicht, weil es die Unterrichtssprache nicht hinreichend beherrscht (2).


Dabei ist das Problem nicht neu – aber es wird größer. Die PISA-Studien zeigen seit Jahren eine abnehmende Lesekompetenz. In Deutschland liegen die Werte seit 2018 unter dem OECD-Durchschnitt. Besonders betroffen: Jugendliche aus bildungsfernen oder mehrsprachigen Haushalten. Die Differenz zur Mehrheit beträgt bis zu drei Schuljahre. In einer Kultur, die auf Schriftlichkeit basiert, ist das kein Randphänomen – sondern ein Strukturproblem.


Wir müssen uns bewusst machen: Schrift war nie ein evolutionäres Geschenk. Der Mensch ist biologisch nicht zum Lesen und Schreiben geboren. Es sind kulturell überformte, hart erlernte, kognitiv hochkomplexe Leistungen. Sie setzen fokussierte Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Sprachverarbeitung und Reflexionsfähigkeit voraus. Schriftliches Denken erlaubt es uns, uns selbst zu beobachten, Gedankengänge zu analysieren, Aussagen zu abstrahieren und Wissen zu akkumulieren. Wer schreibt, strukturiert. Wer liest, differenziert.

Deshalb sind die derzeitigen Entwicklungen nicht nur bildungspolitisch relevant, sondern kulturhistorisch bedeutsam. Wenn das Lesen und Schreiben in seiner Tiefe verloren geht, dann verliert unsere Gesellschaft nicht nur ein Werkzeug – sie verliert eine Denkform.


Die Ursachen sind vielfältig: ein Bildungssystem, das sprachliche Schwächen zu spät erkennt. Elternhäuser, in denen Sprache keine zentrale Rolle spielt. Eine digitale Umwelt, die das Flüchtige und Visuelle belohnt, aber die schriftliche Reflexion marginalisiert. Und ein öffentlicher Diskurs, der häufig lieber an Symptomen herumdoktert, als strukturelle Konsequenzen zu ziehen.


Gleichzeitig ist die Lösung keineswegs utopisch. Die neurokognitiven Grundlagen sind vorhanden – sie müssen nur gezielt aktiviert werden. Frühkindliche Sprachförderung, flächendeckende Alphabetisierung, sprachsensibler Unterricht in allen Fächern, die gezielte Förderung von Deutsch als Zweitsprache, das Training von Lesestrategien und das bewusste Aufwerten schriftlicher Ausdrucksformen: All das ist machbar. Es kostet Geld, ja. Aber der Preis des Unterlassens wäre höher.


Denn Sprache ist nicht nur Mittel, sondern Voraussetzung des Denkens. Wer das Lesen und Schreiben vernachlässigt, schwächt nicht nur das Bildungssystem – er entzieht einer Kultur die Grundlage ihrer Selbstreflexion.



 
 
 

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