Wenn Meinungen zu „Fakten“ werden
- ljaencke9
- 7. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Ein neuropsychologischer Blick auf ein Phänomen unserer Zeit

Neulich hörte ich in einem Gespräch folgenden Satz: „Also ich finde, das ist einfach so. Und da lasse ich auch nicht mit mir reden.“ Was mich an diesem Satz irritierte, war weniger der Inhalt als die Haltung, mit der er vorgetragen wurde. Es war, als hätte jemand gerade den Mount Everest der Wahrheit ganz ohne Sauerstoffgerät, aber mit fester Meinung im Gepäck erklommen.
Wir leben in einer Zeit, in der Meinungen erstaunlich oft den Status von Fakten erhalten. Und das nicht nur in Internetforen, Talkshows oder Stammtischen, sondern auch in gesellschaftlichen Debatten, politischen Diskussionen und gelegentlich sogar in wissenschaftsnahen Kontexten. Wie kommt es dazu? Und warum ist es für uns so schwer, zwischen dem, was wir glauben, und dem, was wir wissen, zu unterscheiden?
Meinungen sind wie Erinnerungen – sie fühlen sich richtig an.
Als Hirnforscher weiß ich: Das menschliche Gehirn liebt Klarheit, Ordnung und Vorhersagbarkeit. Es strebt nach Konsistenz. Deshalb bauen wir uns mit der Zeit ein Weltbild, das zu unseren Erfahrungen, Überzeugungen und Bedürfnissen passt.
Diese inneren Landkarten – nennen wir sie Meinungen – sind tief in unseren neuronalen Netzwerken verankert. Besonders im sogenannten Default Mode Network, jenem Ruhezustand des Gehirns, in dem wir über uns selbst, unsere Vergangenheit und Zukunft nachdenken. Hier entstehen Identität, Selbstgefühl – und eben auch Überzeugungen.
Doch wie bei Erinnerungen gilt: Nur weil sich etwas richtig anfühlt, muss es noch lange nicht stimmen. Das Gehirn ist ein Konstrukteur, kein Chronist.
Das Reiz-Reaktions-Problem: Warum Fakten kaum Chancen haben
Stellen Sie sich vor, jemand präsentiert Ihnen eine Tatsache, die Ihrer Meinung widerspricht. Vielleicht ein wissenschaftliches Ergebnis, das belegt, dass eine weitverbreitete Diät wirkungslos ist. Oder dass eine politische Maßnahme, die Sie unterstützen, gar nicht den gewünschten Effekt hat. Was passiert dann im Gehirn?
Genau: Alarm.
Studien zeigen, dass widersprechende Informationen in denselben Hirnregionen verarbeitet werden wie körperlicher Schmerz. Die Amygdala springt zum Beispiel an und der präfrontale Kortex gerät ins Schleudern. Wir gehen in den Verteidigungsmodus. Die Folge: Fakten werden nicht aufgenommen, sondern abgewehrt. Man nennt dieses Phänomen kognitive Dissonanzvermeidung. Anders gesagt: Wir fühlen uns lieber bestätigt als informiert.
Der soziale Kitt der Meinung
Doch es kommt noch schlimmer. Aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft wird es sogar faszinierender, je nachdem. Meinungen sind nicht nur persönliche Überzeugungen, sondern oft auch soziale Zugehörigkeitsmarker.
Wenn ich mich in einer Gruppe bewege, die glaubt, dass die Erde flach ist – was ich nicht empfehle –, dann wird es für mich zunehmend schwierig, diese Meinung infrage zu stellen. Nicht aus Dummheit, sondern aus dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, dazuzugehören.
In sozialen Medien (aber auch im Alltag und den sogenannten Standardmedien) potenziert sich dieser Effekt. Dort werden Meinungen in Echtzeit verstärkt, geliked, geteilt und irgendwann durch bloße Wiederholung als Wahrheit empfunden. Psychologen sprechen vom Illusory Truth Effect: Was oft genug gesagt wird, wird als wahr erlebt. Auch wenn es kompletter Unsinn ist.
Die Meinung im Faktenpelz
Besonders gefährlich wird es, wenn Meinungen sich als Fakten verkleiden. Wenn jemand sagt:
„Studien zeigen, dass…“ – aber keine Studien zitiert.
„Wissenschaftler sind sich einig…“ – aber keiner genannt wird.
„Jeder weiß doch, dass…“ – aber dieser „Jeder“ ein Mythos ist.
In der heutigen Medienwelt (auch in seriösen Formaten) wird gerne mit dieser Rhetorik gearbeitet. Meinung wird emotional aufgeladen, inszeniert, dramatisiert. Fakten wirken dagegen oft blass, spröde, anstrengend. Kein Wunder, dass sie im Wettlauf um Aufmerksamkeit oft verlieren.
Von Galileo bis Facebook: Beispiele mit Langzeitwirkung
Geschichtlich gesehen ist das Problem nicht neu. Galileo Galilei vertrat die (nachprüfbare) These, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wurde aber von den damaligen Meinungsmachern (sprich: der Kirche) mundtot gemacht.
Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Ideen, die einst als „Spinnerei“ galten: die Evolutionstheorie, die Relativitätstheorie, die Klimaerwärmung. Heute finden wir viele dieser ehemals umkämpften Positionen in Schulbüchern, aber sie mussten sich mühsam gegen beharrliche Meinungen durchsetzen.
Was tun? Eine Anleitung zur inneren Skepsis
Wir brauchen keine Meinungszensur. Aber wir brauchen Bewusstsein. Bewusstsein darüber, wie Meinungen entstehen, wie sie sich verfestigen – und wie wir selbst daran beteiligt sind.
Dazu einige Vorschläge:
Fragen Sie sich bei jeder Überzeugung: Wie weiß ich das eigentlich?
Zweifeln Sie freundlich. Auch an sich selbst.
Suchen Sie den Kontakt zu Menschen mit anderen Perspektiven. Nicht um sich zu bekehren, sondern um die eigene Position zu überprüfen.
Achten Sie auf Sprache. Wer oft „ich finde“ sagt, ist oft näher an der Wahrheit als jemand, der ständig „das ist so“ behauptet.
Zum Schluss: Wahrheit als Prozess, nicht als Besitz
Ich möchte diesen Beitrag mit einer vielleicht unpopulären, aber zutiefst neuropsychologischen Erkenntnis schließen: Wahrheit ist selten eindeutig. Sie ist oft ein Produkt von Perspektiven, Methoden und Konventionen, und sie ist stets im Wandel.
Das bedeutet nicht, dass alles relativ ist. Aber es bedeutet: Wir sollten unsere Meinungen mit einer gewissen Demut tragen. Nicht wie Trophäen, sondern wie Hypothesen.
Denn wer seine Meinung für einen Fakt hält, der hat bereits aufgehört zu denken.
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