Noch nie wurde so viel Musik gehört, wie heutzutage. Musik ist omnipräsent. Wir hören Musik während der Arbeit, während des Autofahrens, beim Einkaufen in Supermärkten und Kaufhäusern oder wenn wir ein Flugzeug besteigen, wenn wir Joggen, zur Arbeit gehen und durch die Stadt schlendern. Musik ist -dank iPod oder iPhone – immer dabei. Die Anziehungskraft von Musik ist offenbar so stark, dass wir heute bei allen möglichen Gelegenheiten Musik hören wollen und können. Neben diesem mobilen Hören von Musik besuchen wir Konzerte, lauschen konzentriert den CD-Einspielungen oder musizieren gar selbst. Etwas Unbekanntes muss an Musik besonders attraktiv sein, sonst würden wir uns diesen „Beschallungen“ nicht so häufig und auch so intensiv aussetzen. Aber was ist daran so interessant und attraktiv, dass wir offenbar Musik so gerne und häufig hören? Worin liegt der „Zauber“ der Musik?
Bedeutung der Musik für den Menschen
Als Wissenschaftler fragt man sich natürlich immer, was die „treibende“ Kraft für die Entwicklung dieser Musikaffinität beim Menschen ist. Als biologisch denkender Mensch ist man schnell geneigt, evolutionäre Mechanismen am Werke zu sehen. Wenn dem so ist, dann muss man sich fragen, was der biologische Vorteil sein könnte, dass Menschen Musik hören und musizieren. Versucht man diese Frage anhand moderner Erkenntnisse aus der Neuropsychologie und der Biologie zu beantworten, dann kann man sieben für das Überleben der Menschen wichtige Eigenschaften herausarbeiten, die mit dem Musikhören und dem Musizieren eng verbunden sind:
1. Musizieren und Musikhören führt zur Synchronisation von sozialen Gruppen. Wenn man mit mehreren Sozialpartnern die gleiche Musik hört und durch diese Musik bei allen Sozialpartnern die gleichen Emotionen ausgelöst werden, dann wird die Isolation des Einzelnen vermieden und man fasst sich als Teil einer Gruppe auf. Balletttänzerinnen und Balletttänzer werden das „Aufgehen“ in einer großen „Figur“ oft erlebt haben. Aber auch der Nichtmusiker kann dieses Phänomen sicher sehr gut nachvollziehen. Denken wir zum Beispiel an die Fan-Gesänge während des Fußballspiels oder die Karnevalslieder während des rheinischen Karnevals.
2. Durch die Musik werden Emotionen ausgelöst, die für die Gruppenbindung wichtig sind (z. B. Annäherung an die Gruppenpartner oder Abkehr von Gruppenfremden). Insofern kann Musik so etwas wie bewusstes und unbewusstes soziales Denken und Handeln auslösen.
3. Durch die oben bereits angesprochene emotionale Synchronisation innerhalb der Gruppe werden soziale Konflikte vermieden oder abgeschwächt. Sind bei den Gruppenmitgliedern die gleichen Emotionen ausgelöst, dann können sich kaum gegensätzliche Emotionen entfalten. Stellen Sie sich vor, sie würden sich auf einer Beerdigung befinden und würden nicht die gleiche Trauer wie die anderen Anwesenden empfinden, dann könnte dies zu Konflikten führen, insbesondere dann, wenn sie auch noch Freude oder gar Verachtung zeigen würden. Geeignete Trauermusik würde dann bei ihnen Trauer auslösen und sie befänden sich dann im gleichen emotionalen Zustand wie die anderen Trauergäste und emotionale Konflikte wären dadurch vermieden.
4. Über musikalische Äußerungen kann man mit den Gruppenmitgliedern kommunizieren, ohne dass man komplizierte Sprachgebilde nutzen muss. Ein herzzerreißendes Liebeslied kann das Herz einer Angebeteten oft schneller öffnen, als die sprichwörtlichen „tausend Worte“. Die Mutter kann ihr Kind durch geeignete Lieder beruhigen oder die Gruppenmitglieder können sich durch aggressive Musik gegenseitig in Kampfstimmung versetzen und ihren Sozialpartnern ihre jeweilige Entschlossenheit mitteilen.
5. Wenn wir uns bewegen, dann kann Musik helfen, dass unsere Bewegungen besser koordiniert werden, weil der Musik-Rhythmus den Bewegungs-Rhythmus leitet. Der Grund dafür ist eine enge funktionelle Verzahnung der Hirngebiete, die mit der Verarbeitung und Kontrolle von Melodien und der Motorik betraut sind.
6. Musizieren primär mit anderen Musikern erfordert Kooperation. Man muss auf seinen Spielpartner eingehen, ihm zuhören, sich auf seine Interpretationen einlassen und gegebenenfalls sich selbst zurücknehmen. Dies bedingt und fördert soziale Interaktionen.
7. Dabei kommt es zum Aufbau von sozialen Beziehungen, was zu einem besseren Verständnis des Kooperationspartners führt, was mit besseren Verhaltensvorhersagen verbunden ist. Alles in allem, wir haben durch das Musizieren eine soziale Beziehung aufgebaut.
Mögen Tiere Musik?
Wenn dies für den Menschen wichtige Eigenschaften der Musik sind, kann man sich fragen, inwieweit sind sie auch bei Tieren anzutreffen. In anderen Worten: Mögen Tiere Musik und musizieren Tiere? Diese Frage ist in einigen wissenschaftlichen Arbeiten recht gut untersucht worden.
Dabei ist deutlich geworden, dass nur der Mensch Musik gegenüber Geräuschen präferiert. Nur der Mensch erfindet ständig neu Musik und verwendet ungeheuer viel Aufwand, um Musikinstrumente zu beherrschen oder Musikstücke zu komponieren. Nur der Mensch erfindet immer neue Möglichkeiten, sich mit Musik zu beschallen und was am wichtigsten ist, nur der Mensch setzt sich mehr oder weniger freiwillig unterschiedlichster Musikbeschallung aus. Tiere machen all dies nicht oder einiges von dem, was ich oben erwähnt habe, nur in außergewöhnlichen experimentellen und damit unnatürlichen Bedingungen.
Viele Tiere verfügen zwar über einen Wahrnehmungsmechanismus, der es ihnen ermöglicht, Musikreize wahrzunehmen, zu unterscheiden und bestimmten Konsequenzen zuzuordnen, aber sie sind nicht zu dem vielfältigen, ja virtuosen Umgang mit Musik in der Lage, wie wir es von den Menschen kennen. Bislang ist noch keine Tierart entdeckt worden, welche bestimmte Musik über andere Musik präferiert, mit großer Mühe komplizierte Musikstücke erfindet, Musikinstrumente spielt, oder sich freiwillig mit verschiedenen Musikstücken beschallen lässt.
Viele Tiere können bestimmte akustische Eigenschaften in Musikstücken entdecken. So gelingt es bereits Goldfischen zu lernen, Barockmusik von Blues zu unterscheiden. Sie entwickeln allerdings keine typischen emotionalen Reaktionen auf diese speziellen Musikgenres und verbinden keine dem Menschen ähnliche Motivationen, Präferenzen, Interpretationen und Gedanken, mit diesen Musikgenres. Sie haben lediglich gelernt, die zu diesen Musikgenres gehörenden akustischen Eigenarten wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden.
Dass Tiere und vor allem Primaten keine Präferenzen für Musik gegenüber anderen Beschallungen zeigen, haben vor einigen Jahren zwei Harvard-Psychologen in einem kleinen Experiment mit Krallenäffchen und Weissbüscheläffchen nachweisen können. Hierzu haben sie eine Apparatur benutzt, die mit zwei Gängen ausgestattet war, die sich v-förmig von einer Startposition nach aussen erstreckten. Am jeweiligen Ende des Ganges waren Lautsprecher angebracht, über welche die Forscher unterschiedliche Musik und Tonfolgen präsentierten. Wurde auf einem Lautsprecher Musik präsentiert, während auf dem anderen Lautsprecher Ruhe herrschte, liefen die Äffchen vorwiegend zu dem Lautsprecher, aus dem keine Musik schallte. Hatten sie zwischen ruhiger oder erregender Musik zu wählen, wendeten sie sich der ruhigen Musik zu. In einer anderen Versuchsbedingung hatten sie sich zwischen langsamen und schnellen Tonfolgen zu entscheiden. Hierbei präferierten sie den Lautsprecher, über den langsame Tonfolgen präsentiert wurden. Offenbar mögen diese Äffchen keine Musik, sie präferieren Ruhe, und wenn sie schon zwischen akustischen Reizen zu entscheiden hatten, dann präferieren sie eher jene mit den langsamen und wenigen Tonfolgen.
Wir mögen das, was wir häufig hören
Dass dies bei 4 Monate alten menschlichen Babys bereits grundsätzlich anders ist, konnten einige weiterführende Arbeiten zeigen. In diesen Arbeiten sassen die Babys auf dem Schoss ihrer Mutter und beschäftigten sich mit Spielzeug, dass vor ihnen platziert war. Rechts und links von ihnen war jeweils ein Lautsprecher angebracht, über die je nach Versuchsbedingung unterschiedliche Melodien präsentiert wurden. Die Babys wandten sich je nach präsentierter Musik dem einen oder anderen Lautsprecher zu. Wurde in einem Lautsprecher konsonante und im anderen Lautsprecher dissonante Musik präsentiert, dann schauten die Babys häufiger und länger zu dem Lautsprecher, aus dem die konsonante Musik erklang.
In ähnlichen Untersuchungen mit 3-4 Jahre alten Kindern zeigte sich, dass Kinder laute und erregende Musik präferieren. Sie offenbaren also ein anderes Präferenzmuster als Äffchen, die ja eher Ruhe präferieren. Im Übrigen hat sich auch gezeigt, dass Kinder recht schnell beginnen, Präferenzen für bereits bekannte Musik zu entwickeln. Sie präferieren jene Musikstücke, die sie häufig gehört haben. Offenbar entfaltet sich unser Musikgeschmack infolge der Erfahrung, im Falle der Kinder sogar nach einfacher Wiederholung desselben Musikstückes. Insgesamt betrachtet scheint beim Menschen Musik anders verarbeitet zu werden als bei Primaten.
Musik und Gänsehaut
Jeder Mensch hat so seine Lieblingsmusik, mit der bei ihm „Gänsehautgefühl“ ausgelöst wird. Dann stehen die Haare auf der Haut senkrecht ab, die Spannung der Muskulatur erhöht sich, die Schweißdrüsenaktivität nimmt zu und die Atemfrequenz nimmt kurzfristig ab, um dann wieder anzusteigen. In solchen Situationen ist auch ein spezielles Nervennetzwerk in unserem Gehirn aktiv, dass wir der Einfachheit halber als „Lustzentrum“ bezeichnen können. In diesem „Lustzentrum“ wird dann ein bestimmter Botenstoff (Dopamin) in großen Mengen ausgeschüttet, der im weiteren Verlauf der Erregungskaskade Glücksgefühle auslöst. Insofern kann bestimmte Musik unser „Lustzentrum“ im Gehirn aktivieren! Interessanterweise kann man ähnliche oder gar die gleichen Reaktionsmuster feststellen, wenn wir eine großartige Belohnung erhalten (unter anderem Geld oder ein Lob, das uns mit Stolz erfüllt). Insofern kann man solche Musik als eine Form der Belohnung auffassen, die es Wert ist, immer wieder anzustreben. Immer dann, wenn wir etwas anstreben, das mit Belohnung verbunden ist oder mit Belohnung verbunden sein könnte, wird dieses „Lustzentrum“ aktiv. Wenn wir also ein Musikstück erwarten, das bei uns einmal Lust ausgelöst hat, dann wird dieses Lustzentrum sozusagen „vorgeglüht“. Das bedeutet, dass in Erwartung eines schönen Musikereignisses das Lustzentrum bereits feuert.
Es bleibt allerdings die Frage offen, welche Musik geeignet ist, bei uns diese neuronalen Aktivierungen im „Lustzentrum“ hervorzurufen. Einige Grundelemente der Musik bergen in sich die Kraft, eher als angenehm oder unangenehm empfunden zu werden. So sind regelmässige Lautmuster, akustische Reize im mittleren Lautstärkebereich, langsam einsetzende und sich verändernde akustische Reize und konsonante Klänge eher geeignet, angenehme Empfindungen auszulösen.
Interessante und angenehme Musik ist aber durch mehr als durch recht einfache akustische Reizcharakteristika gekennzeichnet. Musik ist zumindest in unserer Kultur ein Reizgebilde, das durch die regelmässige Aufeinanderfolge von Tönen und Klängen charakterisiert ist. Diese Regelmässigkeit ermöglicht Vorhersagen über die zukünftigen Klänge. Es werden also Erwartungen geweckt, die erfüllt, teilweise erfüllt oder eben nicht erfüllt werden können. Dadurch kann Spannung aufgebaut werden, die nach „Lösung“ sucht und gegebenenfalls auch zur Spannungslösung führt. Alle diese Phänomene sind mit emotionalen Reaktionen verbunden. Insbesondere spannungslösende Momente in der Musik werden typischerweise als sehr angenehm empfunden. Aber nicht nur die Spannungslösung löst angenehme Zustände aus, sondern auch der ständige Wechsel von Reizmustern, die leichten Abweichungen von der Erwartung und die (wie oben bereits angedeutet) die Nähe zum schon Bekannten.
Musik und das Kino im Kopf
Neben diesen grundsätzlichen akustischen Eigenschaften, welche in der Musik eingebaut sind, können auch noch andere Aspekte der Musik bei uns Emotionen hervorrufen. Musik kann auch mit individuellen Erinnerungen gekoppelt werden. Das können sentimentale Erinnerungen an bestimmte Lebensereignisse sein, die wir mit bestimmten Musikstücken verbinden oder Geschichten, die mit bestimmten Musikstücken untrennbar zusammenhängen. Typische sentimentale Ereignisse sind Jugend- und/oder Kindheitserinnerungen, die mit bestimmten Musikstücken gekoppelt sind. Erinnern nicht noch heute die Songs der Beatles und der Rolling Stones uns Mittelalte an die emotionalen Eruptionen der Jugend? Erinnern Sie sich noch an die Musik, die wir in unserem ersten -ohne unsere Eltern verbrachten – Urlaub oft gehört haben?
Das Hören dieser Musik aktiviert dann automatisch die mit dieser Musik assoziierten Erinnerungen. Hierbei kommt eine besondere Eigenart unseres Gehirns zum Tragen, nämlich die enorme Fähigkeit zur Vernetzung verschiedener Informationen. Dass dies möglich ist, ist der enormen anatomischen und funktionellen Vernetzung des menschlichen Gehirns geschuldet, das wie kein anderes Gehirn (anderer Tiere) in der Lage ist, neuronale Netzwerke über große Distanzen innerhalb des Gehirns miteinander zu verzahnen. Deshalb können wir Melodien mit Geschichten, Ereignissen, Gerüchen und Vorstellungen recht elegant koppeln, sodass wir beim Hören neben dem akustischen Tonstrom auch ein multimodales Kino in unserem Geiste ablaufen lassen können. Je nachdem, welchen multimodalen Strom man in der Lage ist, mit bestimmter Musik ablaufen zu lassen, kann man sogar Lustempfindungen hervorrufen.
Ein Gewitter von Erregungen im Gehirn
Misst man die Hirnaktivierungen beim Hören von Musik zum Beispiel mit dem Elektroenzephalogramm (EEG), erkennt man sich über das Gehirn ausbreitende Erregungswellen, die sich vom Hörkortex ausgehend über das gesamte Gehirn entfalten. Diese Erregungswellen erfassen demzufolge nicht nur den Hörkortex, der die Töne und Melodien verarbeitet, sondern auch den Sehkortex, aber auch viele andere Hirngebiete (z. B. Gedächtnisstrukturen, den Motorkortex und Geruch verarbeitende Gebiete). Es ist kein konstantes, sondern ein dynamisches Aktivierungsmuster wobei sich die Erregungswellen wie Wellen am Strand hin- und her bewegen. Dieses dynamische Aktivierungsmuster birgt einige typische Merkmale in sich, die durch die besonderen Eigenarten der Musik hervorgerufen werden (Lautstärke, Übergänge, Akzente). Es sind aber auch sehr individuelle Erregungsanteile zu erkennen, die durch die jeweiligen individuellen Erfahrungen der Person erklärt werden können. Denn jede Person hat seine individuelle Erfahrung mit der jeweiligen Musik gemacht. Wenn ich zum Beispiel von Vivaldi „Herbst“ aus den „Vier Jahreszeiten“ höre, dann erinnere ich die Zeit, die ich während des „Indian-Summers“ in Boston vor langer Zeit verbracht habe. Wir haben damals intensive Wanderungen durch diese wunderschönen Wälder unternommen. Immer wenn ich mich daran erinnere, werden diese wunderschönen und eindrücklichen Bilder wachgerufen. Das bedeutet, dass ich beim Hören dieser Musik vor meinem inneren Auge die bunten Blätter dieser Herbstwälder sehe. Ich verspüre den Geruch der von den Bäumen gefallenen und jetzt auf dem Boden faulenden Blätter in meiner Nase. Ich erinnere die Erschöpfung meiner Muskulatur, die sich nach den intensiven Wanderungen eingestellt hat.
All diese Erinnerungen und Empfindungen werden durch Töne, Klänge und Klangfolgen wachgerufen und erzeugen bei mir sehr lebhafte Wahrnehmungen. Jede dieser individuellen Erfahrungen werden durch unterschiedliche Netzwerke in meinem Gehirn verarbeitet und generiert. Insofern ruft diese Musik ein ganz individuelles Muster an Hirnaktivierungen hervor. Bei anderen Menschen wird der „Herbst“ von Vivaldi ein anderes Hirnaktivierungsmuster auslösen, weil jeder seine (oder keine) individuelle Erfahrungen mit dieser Musik gemacht hat. Kurzum, Musik kann ein „Gewitter“ von neuronalen Erregungen in unserem Gehirn auslösen, dass nicht lokal an einer Stelle verharrt, sondern grosse Teile des Gehirns erfasst.
Der Mensch verfügt im Gegensatz zu den Primaten und allen anderen Tieren auch über die Möglichkeit, Musik mit komplexen Geschichten zu assoziieren, die vielfältige Interpretationen ermöglichen. Mit Musik gelingt es uns auch, Geschichten neu zu erfinden, Querverbindungen zur Realität zu ziehen, zu träumen, die Realität zu simulieren oder einfach auch Situationen einfach zu verstehen. Mit diesen Fähigkeiten können wir uns in die Singspiele mit ihren teilweise komplexen sozialen Beziehungen hineinversetzen, den Ablauf der sozialen Interaktionen vorhersehen, bewerten, neu deuten und diese dann mit unseren eigenen sozialen Beziehungen vergleichen. Eine Oper kann dann zu einer virtuellen sozialen Trainingswelt werden, in die wir uns hineinversetzen, gemeinsam und stellvertretend mit den Protagonisten leiden und uns mit ihnen freuen.
Der Rausch der Bewunderung
Neben den Kräften, die durch die Musik selbst hervorgerufen werden, kann uns das eigentliche Musizieren, also das Meistern eines Instrumentes Bewunderung und Faszination entlocken. Wenn virtuose Pianisten ihrem Instrument schier unmögliche Klangfolgen entlocken oder Eric Clapton wie kein Zweiter mit atemberaubender Geschwindigkeit auf seiner E-Gitarre unglaubliche Klangmuster produziert, dann erzeugen diese außergewöhnlichen Leistungen Bewunderung gerade bei jenen, die sich auch schon an diesen Instrumenten versucht haben und nur zu genau wissen, wie schwierig ja sogar „unmöglich“ dies alles sein muss. Ähnliches tritt gelegentlich auch beim virtuosen Jazz-Improvisieren auf. Die produzierten Klänge sind alles andere als konsonant, meistens sogar dissonant, allerdings werden sie mit einer ungeheuren Virtuosität generiert, die den Betrachter und Zuhörer in pures Erstaunen versetzt. Auch die unerwarteten Wendungen der Klangfolgen können Überraschung, ja sogar Erleichterung beim Zuhörer auslösen. Bewunderung für herausragende Leistungen ist das Resultat eines in uns fest verankerten Mechanismus, der möglicherweise wichtig ist, um soziale Strukturen zu stabilisieren. Demjenigen, der besondere Leistungen erbringt, werden gerne besondere Positionen in der sozialen Rangordnung zugeschrieben und dann identifiziert man sich gerne mit dieser herausgehobenen Position. Dann „belohnen“ wir uns quasi selbst, wenn dieser Meister eine besondere Leistung erbringt. Faszination wird dann ausgelöst, wenn wir einem Meister seines Faches bei der Ausübung seines Handwerkes zuschauen.
Die Vielfalt des Musikhörens
Musikhören ist ein komplexer Prozess, der bei uns nicht immer gleichartig abläuft. Je nach Stimmungslage oder Situation entfalten sich bei uns unterschiedliche Hörzugänge. Je nach gewähltem Hörzugang wenden wir uns unterschiedlicher Musik zu und nehmen diese auch ganz unterschiedlich wahr. Grob kann man zwischen „motorischem Hören“ (zum Beispiel, wenn man tanzen will), „kompensatorischem Hören“ (zur Regulation von Emotionen, zum Beispiel zur Stimmungsaufhellung), „diffusem Hören“ (beiläufiges Musikhören), „sentimentalem Hören“ (s.o.), „emotionalem Hören“ (emotionale und gefühlvolle Hingabe beim Musikhören) und „distanziertem Hören“ (dies ist ein geistig-intellektueller Zugang zur Musik). Bei einigen Hörzugängen ist es offensichtlich, dass unser „Lustzentrum“ direkt aktiviert werden kann, bei anderen eben nicht oder eher indirekt. So wird beim „diffusen Hören“ das emotionale System kaum ansprechen, außer man wechselt vom „diffusen“ zum „emotionalen Hören“. Beim „distanzierten Hören“ kann sich infolge der intellektuellen Durchdringung des Gehörten ein befriedigendes Gefühl eintreten, das uns für das errungene Verständnis der Musik quasi belohnt. Dies könnte zum Beispiel stattfinden, wenn man die musikalischen Motive in Wagner-Opern entdeckt und ihre Entfaltung während des Musikstückes nachvollziehen kann. Dann ist die Belohnung eher eine Folge der geglückten intellektuellen Interpretation und nicht durch das akustische Ereignis an sich hervorgerufen worden.
Vielfalt als Quelle des Zaubers
Die Vielfalt der Möglichkeiten, die unser Gehirn uns anbietet, mit Musik unterschiedlicher Genres umzugehen, ist faszinierend. Faszinierend ist allerdings auch, welche Vielfalt uns die Musik eröffnet, sie zu verarbeiten. Diese Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Umgang mit Musik ist m. E. eine der Grundlagen für das Verständnis des „Zaubers der Musik“. Kaum ein kultureller Reiz bietet so viele Nutzungsmöglichkeiten. Wir können uns diesem Reiz ohne intellektuelle Mühe emotional hingeben oder ihn intellektuell interpretieren. Wir können ihn aber auch verwenden, um uns an frühere schöne Ereignisse zu erinnern oder uns mit Sozialpartnern zu synchronisieren, indem wir mit ihnen singen, tanzen oder musizieren. Die Vielfalt der Musik ist die Quelle der Interpretation, denn sie bietet unserem unglaublichen Interpretationsorgan Gehirn unendliche viele Möglichkeiten, sich in Interpretation zu üben.
Dies war im Wesentlichen meine Eröffnungsrede zu den Luzerner Festspielen im August 2014. Diese Rede wurde auch in der NZZ am Sonntag abgedruckt. Den oben dargestellten Text habe ich nur leicht geändert. Anlässlich meines Vortrages an der Veranstaltung "Live Music Now" in Wien erreichten mich viele Nachfragen bzgl. dieser Rede. Aus diesem Anlass habe ich mir erlaubt, diese heir zu veröffentlichen.
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