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Déjà-vu – und was wir daraus lernen.


Ein Déjà-vu ist ein Erlebnis, bei dem man das Gefühl hat, eine Situation oder Umgebung bereits zuvor erlebt oder gesehen zu haben, obwohl dies eigentlich nicht der Fall sein kann. Oft beschreiben Menschen dieses Gefühl als «Ich habe das alles schon mal erlebt» oder «Ich habe das bereits gesehen». Das Erlebnis kann sehr kurz sein, nur wenige Sekunden, oder auch länger andauern.


Als ich 1996 zum ersten Mal Mecklenburg-Vorpommern besuchen durfte, habe ich etwas Merkwürdiges bemerkt. Ich war in diesem Jahr als Professor an die Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg berufen worden. Meine Familie und ich kannten die neuen Bundesländer nicht, deshalb beschlossen wir, auf die Insel Rügen im äußersten Nordosten von Deutschland zu reisen. Wir fuhren mit unserem Auto also von Magdeburg nach Rügen und nahmen, um die Gegend zu erkunden, eine Route über Rheinsberg – über die sogenannte Deutsche Alleenstraße. Diese Fahrt war für mich ein ganz besonderes Erlebnis, nicht nur wegen der außergewöhnlichen landschaftlichen Schönheit, sondern vor allem wegen des merkwürdigen Gefühls, das mich ergriff, während wir durch die ausgedehnten Alleen fuhren: Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich das alles schon mal gesehen hatte.


Aber das war völlig unmöglich, denn ich war noch nie in diesem Gebiet gewesen. Weder vor der Wende noch danach. Dies war definitiv mein erster Besuch dieser Landschaft. Trotzdem hatte ich weiterhin das untrügliche Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein.


Dieses Gefühl (das Déjà-vu-Erlebnis) kennt sicherlich jeder. Es ist ein normales Phänomen, das sich aufgrund einer besonderen Eigenart unseres Gedächtnisses entfaltet. Solche Erlebnisse entstehen, weil unser Gedächtnis zwei Erinnerungsmodi nutzen kann. Den ersten Modus bezeichnen wir als Rekollektion. In diesem Modus suchen wir bewusst verschiedene Bruchstücke unserer Erinnerung und fügen sie zu einem stimmigen Erinnerungsbild zusammen. Der andere Modus erkennt eine Art Vertrautheit. Es ist eine Ahnung, also ein Gefühl, dass wir etwas bereits erlebt, gesehen oder gehört haben.


Beide Erinnerungsmodi können unabhängig voneinander arbeiten. Sie können aber auch zusammenarbeiten und sich ergänzen. Wird die Vertrautheit angestoßen, können wir es dabei belassen. Dann empfinden wir eben Vertrautheit, ohne dass wir tiefer in unser Gedächtnis abtauchen. Wir können aber auch versuchen, das Vertrautheitsgefühl zu erklären. Dann versucht unser Gehirn in der Regel unbewusst, das Vertraute in einen sinnvollen Kontext einzusortieren. In anderen Worten beginnt unser Gehirn die Vertrautheit logisch zu erklären.


Dabei benutzt das Gehirn im Gedächtnis bereits abgespeicherte Erinnerungsteile und baut daraus eine neue und lebhafte Erinnerung zusammen. Bei mir müssen dies im Gedächtnis abgespeicherte Bilder von Alleen gewesen sein, die während der Fahrt auf den Alleen in Mecklenburg-Vorpommern reaktiviert wurden.


Ich war immer schon von der beeindruckenden Schönheit von Alleen fasziniert. Theodor Fontane berichtet beispielsweise in seinen berühmt gewordenen Werk „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ausführlich von den von stattlichen Bäumen eingefassten Wegen. Er schildert die Wohltat, die es bereitet, durch schattige Alleen unter „prächtigen alten Linden“ oder auf einer Straße zu wandern, „deren junge Ebereschen in roter Pracht stehen“.


Mir ist auch heute noch das Gedicht von Christian Morgenstern über die Allee sehr präsent:

Die Allee

Ich liebe die graden Alleen

mit ihrer stolzen Flucht.

Ich meine sie münden zu sehen

in blauer Himmelsbucht.


Ich bin sie im Flug zu Ende

und land' in der Ewigkeit.

Wie eine leise Legende

verklingt in mir die Zeit.


Mein Flügel atmet Weiten,

die Menschenkraft nicht kennt:

Groß aus Unendlichkeiten

flammt furchtbar das Firmament.


Auch Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke haben sich in ihren Gedichten immer wieder über Alleen ausgelassen. Sicherlich haben sich mir diese sprachlichen Bilder fest eingeprägt, wobei mir die Quellen, wo und wie ich diese Bilder wahrgenommen habe, verblasst sind.


Die Interpretationsneigung unseres Gehirns zeigt sich auch in Situationen, in denen Wahrnehmung und Gedächtnis miteinander kooperieren, um eigentlich unsinnige Ereignisse sinnvoll zu erklären. Als Kinder lagen wir in den Ferien oft am Strand und betrachteten die vorbeiziehenden Wolken. Dabei ergab es sich automatisch, dass wir in den Wolken etwas Sinnvolles zu erkennen glaubten. Oft sahen wir Gebirgsformationen, gelegentlich die Umrisse von Tieren, Gesichtern oder anderen Objekten.


Dieses vermeintliche Erkennen von vertrauten Objekten in Zufallsmustern ist eine besondere Fähigkeit unseres Denkorgans: Es fällt uns bemerkenswert leicht, in Unsinn Sinn hineinzuinterpretieren. In der Wissenschaft nennen wir dieses Phänomen Pareidolie und es ist mittlerweile auch Gegenstand umfangreicher Forschung innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft. Das wahrscheinlich bekanntestes Beispiel hierfür ist das berühmte „Marsgesicht“ in der Cydania-Region des Mars. Auf der Internetseite „26 Faces in Everyday Objects“ finden sich viele weitere Beispiele, bei denen wir automatisch verleitet werden, Gesichter wahrzunehmen, obwohl keine dargestellt sind. Ein ähnliches Phänomen ist das Hören von Stimmen, auch wenn gar keine vorhanden sind, zum Beispiel bei einer Séance im Rahmen einer spirituellen Sitzung.


Was lernen wir daraus: Unsere Erinnerungen sind das Ergebnis von Interpretationen. Vertrautheiten stoßen oft Interpretationsprozesse an, die zu Déjà-vu-Erlebnissen führen. Déjà-vu-Erlebnisse sind nichts Mystisches oder Übernatürliches, sondern interessante Phänomene unseres Gedächtnisses.

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