top of page
LJ-schreibt-nachdenklich_edited_edited.png

Unabhängige und vielfältige Informationsquellen


In meinem letzten Buch „Aus der Steinzeit ins Internet“(1) habe ich mich hauptsächlich mit den Problemen des World Wide Webs beschäftigt. Dabei ging es mir vor allem um die Darstellung der evolutionären Verhaltensgrundlagen und der elementaren Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Beides passt nicht zu den Anforderungen der modernen Internetwelt. Wir neuzeitlichen Menschen sind für andere Lebensumgebungen angepasst.


Die moderne Welt mit ihren überbordenden Informationsmengen und der explodierenden Weltbevölkerung ist positiv formuliert eine der großen Herausforderungen für den modernen Menschen. Wird der moderne Mensch diese „harte Nuss“ meistern oder wird er an ihnen zerbrechen und gar untergehen? In diesem Buch habe ich mit dem Zweifel gespielt, dass wir es nicht schaffen werden, uns mit der aktuellen Welt konstruktiv auseinanderzusetzen. Ich bin besorgt, dass der moderne Mensch aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie betrachtet keine evolutionsstabile und -erfolgreiche Spezies ist. Erfolgreich in diesem Sinne ist die Kakerlake, die mit gleichem Körperbau und Verhalten seit circa 700 Millionen Jahren die Welt bevölkert. Ob der Homo sapiens dies schaffen wird, ist aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich.


Der Homo sapiens existiert auf dieser Welt weniger als 200.000 Jahre und wäre bereits vor 100.000 Jahren fast ausgestorben. Auch der erste Mensch ist im Vergleich zum Alter der Erde (circa 4,5 Milliarden Jahre) mit seinen circa 4 Millionen Jahren jung. Eigentlich existiert der Mensch, auch der prähistorische Mensch, noch nicht mal für die Dauer eines Wimpernschlags bezogen auf das Alter der Welt. Das Internet und die damit verbundene moderne Welt kann man als einen Angriff auf die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens betrachten.


Obwohl ich die Zukunft des Menschen pessimistisch einschätze, sehe ich dennoch positive Ansätze für die Zukunft des Menschen. Dies sind günstige Begleiterscheinungen der modernen digitalen Welt, über die ich in diesem Blog regelmäßig diskutieren werde. Wie vieles im Leben sind Alltagsphänomene mit negativen und positiven Aspekten verbunden. In diesem Blog konzentriere ich mich nun auf die hoffnungsfrohen Aspekte. Diese günstigen Aspekte sind, wie wir sehen werden, nur dann zu genießen, wenn wir auch lernen, sie zu nutzen und vor allem auch zu finden. Wie man sehen wird, benötigen wir dazu etwas, was ich in meinem Buch „Von der Steinzeit ins Internet“ immer wieder betone, nämlich eine bestimmte Form der Selbstdisziplin, die in unserem Impulskontrollsystem vom Frontalkortex gesteuert wird.


Unabhängige Informationen

Ich gehöre noch zu einer Generation, die mit einer überschaubaren Auswahl von Printmedien und Fernsehsendern aufgewachsen ist. Der Spiegel, die FAZ, die ZEIT, gelegentlich auch die Süddeutsche Zeitung und als Lokalblätter die Rheinische Post und der Generalanzeiger waren die Zeitungen, die mich in meiner Jugend, während der Schulzeit und bis ins frühe Erwachsenenalter begleitet haben. Montags war immer Spiegelzeit und ich fieberte den neuesten Enthüllungen, politischen Analysen sowie wissenschaftlichen Berichten entgegen. Der Donnerstag gehörte der ZEIT mit ihrem tollen Feuilleton und den eleganten Essays aus der Feder sachkundiger und bekannter Politjournalisten. Nebenbei erfuhr man dann auch etwas über den akademischen Stellenmarkt. Die wissenschaftlichen Beiträge im Feuilleton waren meistens hervorragend, gelegentlich sogar brillant. Das Fernsehen bescherte uns sachliche Reportagen, Nachrichten und interessante Diskussionsrunden. Ich muss gestehen, dass ich mich damals (das hört sich so historisch an) im Hinblick auf Informationsvermittlung und politische Analysen gut aufgehoben fühlte. Ich vertraute diesen Qualitätsmedien zutiefst. Sie waren für mich Institutionen. Selten bezweifelte ich die Seriosität und Korrektheit der vermittelten Informationen.


Damals war auch nicht alles perfekt, aber ich hatte zumindest den Eindruck, dass es gut sei. Man merkte bereits damals, dass insbesondere der deutsche Journalismus sich eher als Gesinnungsjournalismus verstand. Journalisten zeigten damals schon „Haltung“ und demonstrierten da und dort offen ihre persönliche Meinung. In der englischen Presse, zumindest in der Qualitätspresse, wird bis heute zwischen Meinung und sachlicher Berichterstattung sauber getrennt. Bei der NZZ findet man diese Trennung bis heute. In deutschen Medien war diese Trennung nicht so deutlich. Die Darstellung von Meinung und Fakten war nie wirklich getrennt. Nur haben wir das damals nie wirklich bemerkt, denn oft waren wir ja der gleichen Meinung wie viele der Journalisten. Erst Jahre später erkannte ich oft, dass meine Meinung und die vieler Journalisten aus einer anderen Perspektive falsch oder zumindest verdreht war. Aber uns standen nur diese Qualitätskriterien zur Verfügung. Schon damals betrachteten wir die Welt durch den Filter der journalistischen Bearbeitung.


Heute ist die Informationswelt grundlegend anders. Wir ersticken zwar in der Informationsflut, aber in dieser Flut findet man da und dort wahre Schätze. Mittlerweile etablieren sich eigenständige YouTube-Kanäle, einzelne Zeitungen etablieren per Streaming Talkshows und Journalisten unterschiedlicher politischer Färbung präsentieren per YouTube spezielle Formate. Mittlerweile existieren auch eigenständige digitale Zeitungen und Foren, die das politische und gesellschaftliche Geschehen aus ganz abwechslungsreichen Perspektiven beurteilen und diskutieren.


Wenn man will, kann man sich heute vielfältig informieren. Man ist in der Lage, sich die unterschiedlichsten Interpretationen und Positionen zu ein und demselben Sachverhalt zu Gemüte zu führen. Das mag helfen, sich eine differenzierte Meinung zu bilden. Aber es ist nicht unproblematisch, vor allem, wenn man sich im Dunstkreis seiner schon geformten Meinung bewegt. Dann konsumiert man nur jene Informationen, welche die eigene Betrachtungsweise bestätigen. Das ist natürlich nicht besonders hilfreich, sondern führt zu einer Verfestigung bereits vorgefasster Meinungen und Sichtweisen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Wenn es einem aber gelingt, verschiedene Informationslager miteinander zu vergleichen, dann kann schon etwas Gutes dabei rauskommen. Im Grunde ist dies der ideale Weg, um eigene Ansichten der Welt zu entwickeln. Das ist heutzutage mittels der verschiedenen Kommunikationskanäle im Internet möglich.


Diese positive Vielfalt von Informationen findet man auch in anderen Bereichen. Mittlerweile existieren YouTube-Kanäle über Randthemen, die ein zu kleines Publikum interessieren, um von Standardmedien bedient zu werden. Heute findet man erfolgreiche YouTube-Kanäle, die Füllhalter, Notizbücher, Krankheiten, Reisen, fremde Orte und Landschaften und was weiß nicht was besprechen und diskutieren. Ähnlich vielfältig sind manche Blogs und Internetzeitungen über medizinische und historische Themen. Das Internet entwickelt sich zum universellen Lehrmeister für alles. Letztlich belehrte mich mein Sohn mit folgendem Satz: „Hast Du ein Problem, dann findest Du die Antwort auf YouTube“. Recht hat er. Man kann über das World Wide Web nicht nur lernen, wie man Differenzialgleichungen löst, sondern auch erfahren, wie man ein Baguette oder ein Croissant herstellt. Das Internet wird zum individuellen Lehrmeister für nahezu alle Themen. Das sind doch positive Entwicklungen, die wir zur Entfaltung unserer Persönlichkeit und zur Anreicherung unseres Wissens nutzen können oder besser gesagt, nutzen sollten.


Die sinnvolle Nutzung des Internets erfordert allerdings psychische Fähigkeiten, die in der heutigen Zeit gelegentlich als uncool aufgefasst werden. Man muss lesen und Texte verstehen können. Auch die Gedächtnisfähigkeiten sind gefragt. Ohne dass wir diese Informationen behalten, funktioniert nichts und wir können davon nicht profitieren. Am wichtigsten ist aber, dass wir uns konzentriert mit den Informationen beschäftigen. Dazu benötigen wir Selbstdisziplin, Aufmerksamkeit, Fokussierung auf das Wesentliche und ein gewisses Ausmaß von Impulskontrolle. Alles psychische Fertigkeiten, über die bereits die erfolgreichen alten Ägypter, Griechen und Römer verfügten. Denn ihre Gehirne waren nicht anders, als unsere Gehirne. Vor allem verfügten auch sie über einen Frontalkortex, mit dem sie ihre Selbstdisziplin und Aufmerksamkeit entfalten lassen konnten.


1) Jäncke, L. (2021). Von der Steinzeit ins Internet: Der analoge Mensch in der digitalen Welt. Hogrefe AG.

26 Ansichten2 Kommentare

1923 beschrieb der französische Neurologe und Psychiater Joseph Capgras eine merkwürdige Erkrankung, die als Capgras-Syndrom in die Literatur eingegangen ist (1). Er beschrieb eine Patientin, Madame M., die lebhafte und skurrile Illusionen hatte. Sie gab an, dass ihr Ehemann, ihre Kinder und ihre Nachbarn durch andere Personen ersetzt worden seien. Zudem würden die Doppelgänger gelegentlich durch andere Doppelgänger ersetzt.


In der Folgezeit wurden Capgras-Patienten beschrieben, die sich von diesen Illusionen derart belästigt fühlten, dass sie sogar bereit waren, diese Doppelgänger zu ermorden. In der Regel werden bei dieser Störung nahestehende Verwandte und Personen, mit denen man emotional eng verbunden ist, illusionär durch andere Personen ersetzt.


Ein spektakulärer, aber tragischer Capgras-Fall wurde 1999 vor einem Gericht in Cardiff verhandelt. Ein Lehrer namens Alan Davis entwickelte nach einem Autounfall die Überzeugung, dass seine Ehefrau Christine bei dem Unfall ums Leben gekommen sei, was de facto aber nicht der Fall war. Die Frau, mit der er jetzt zusammenlebte, behauptete er, wäre nicht seine Ehefrau, sondern eine Betrügerin, die sich als seine Ehefrau ausgeben würde. Das Zusammenleben mit ihr wäre für ihn höchst unangenehm und unerwünscht. Er war felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau gestorben sei, und ließ sich durch kein Argument von seiner Überzeugung abbringen. Der im Gerichtsverfahren tätige psychiatrische Gutachter attestierte dem Lehrer daraufhin das Capgras-Syndrom. Trotz mehrjähriger psychotherapeutischer Behandlung konnte Davis nicht von der Wahnvorstellung geheilt werden, und er verklagte den unfallverursachenden Fahrer auf Schmerzensgeld für die ihm zugefügten Leiden. Das Gericht sprach ihm 130’000 Pfund zu. Diese bizarre Form der Illusion ist zum Glück aussergewöhnlich, aber dennoch eine interessante Blüte menschlicher Interpretationsfähigkeit (2).


Man kann emotionale Reaktionen sehr einfach mittels Veränderung der Hautleitfähigkeit messen. Dazu bringt man Elektroden an der Handinnenfläche an und misst damit die Aktivität der Schweißdrüsen. Selbst bei der kleinsten emotionalen Erregung verändert sich die Schweißdrüsenaktivität. Wenn gesunde Menschen Bilder von Verwandten oder Freunden sehen, dann ist diese Aktivität im Vergleich zur Präsentation neutraler Bilder deutlich erhöht. Bei Capgras-Patienten bleibt dieser Effekt aus: Offenbar lösen bei ihnen die Darstellungen von bekannten Personen keinerlei emotionalen Reaktionen aus!


Aber was ist die Ursache dieses merkwürdigen, aber gleichsam interessanten Syndroms? Einige vermuten, dass die funktionelle Verbindung zwischen Gesichtswahrnehmungs- und emotionsverarbeitenden Gehirngebieten gestört sei. Diese Erklärung leuchtet zwar ein, kann allerdings nicht erklären, dass es andere Patienten gibt, die ebenfalls unter einer Entkopplung dieser Hirngebiete leiden, aber nicht an einem Capgras-Syndrom erkranken.


Wahrscheinlich ist bei Capgras-Patienten ein rechtshemisphärisches Netzwerk gestört, das den sogenannte temporoparietalen Übergangsbereich (Temporoparital Junction, TPJ) einschließt (siehe Abbildung 1). Dieses Hirngebiet befindet sich zwischen dem unteren Parietallappen und den angrenzenden hinteren Temporallappen. Es gilt als das Netzwerk, das im weitesten Sinne auf Gedankenlesen (Mind Reading), aber auch in das Erkennen des Selbst und fremden Personen spezialisiert ist. Es ist besonders dann aktiv, wenn wir uns in andere Personen hineinversetzen, um ihre Absichten und Gedanken zu erkennen.



Abbildung 1: Rechtsseitiges Netzwerk, das in das Erkennen des Selbst eingebunden ist (3). TPJ: temporo-parietale Übergangsregion, Gsm: Gyrus supramarginalis, DLPFC: dorso-lateraler Präfrontalkortex, VLPFC: ventro-laterale Präfrontalkortex, OFC: Orbitofrontalkortex.


Ist dieses Netzwerk gestört, kann es zu einer Reihe von neuropsychologischen Störungen kommen, welche die egozentrische (auf das Selbst bezogen) und allozentrische (auf die Außenwelt bezogen) Wahrnehmung beeinflusst. Durch die Beeinträchtigung dieses rechtsseitigen Netzwerks gewinnt das voll funktionsfähige linksseitige Netzwerk quasi die "Oberhand". Da dieses Netzwerk eine Neigung zur Interpretation verfügt, werden Interpretationen gestartet, die letztlich zu Fehlinterpretationen führen. Eine Variante davon ist das Capgras-Syndrom.


Abbildung 2: Darstellung beider Hirnhemisphären. Die linke ist eher interpretationsgeneigt, während die rechte eher wahrnehmungsnah agiert (3).


Wir können die Welt im Allgemeinen und andere Menschen im Speziellen in zweierlei Art und Weise wahrnehmen: in einer egozentrischen und einer allozentrischen Rezeption. Bei der egozentrischen Wahrnehmung beurteilen wir die Welt und die anderen Menschen aus der Perspektive unseres zentralen Egos. Wir beziehen alle Urteile auf einen Bezugspunkt, der in uns liegt (eben dem Ego oder dem Selbst).


Wenn wir Menschen beurteilen, kann das egozentrische System in zwei unterschiedlichen Modi arbeiten: im Selbst-Modus und im Anderen-Modus. Im Selbst-Modus repräsentiert das System meine Gedanken und meinen Geist (Verstand, Psyche, Seele), der in meinem Körper lokalisiert ist. Im Anderen-Modus repräsentiert dieses System „andere Leute“ in fremden Körpern sowie deren Gedanken. In diesem Modus fungiert das egozentrische System als Simulation der anderen Person, die uns interessiert: Wir versetzen uns in diese Person, stellen uns das egozentrische System der anderen Person vor und halten sie für nett, freundlich oder unsympathisch.


Beurteilen wir andere Menschen mittels des allozentrischen Bezugssystems, dann beziehen wir die Urteile über die anderen Personen nicht auf uns, und wir simulieren auch nicht deren egozentrisches System. Deshalb versetzten wir uns auch nicht in die Person. Wir beurteilen diese Person quasi von außerhalb, so als würden wir ihr Verhalten wie ein neutraler Wissenschaftler messen. Wir können so trotzdem feststellen, dass die Person objektiv nett oder aggressiv ist, aber wir stellen diese Eigenschaften fest, ohne sie zu simulieren und mit uns in Verbindung zu bringen. Wir nennen diese Betrachtungsebene auch die Dritte-Person-Perspektive.


Bei den Capgras-Patienten gelingt die egozentrische Betrachtung der anderen Person nicht mehr. Sie sind nicht mehr zur egozentrischen Betrachtung im Anderen-Modus in der Lage. Aufgrund der Unfähigkeit, dieses System zu nutzen, haben sie auch keinen Zugriff mehr auf die gespeicherten Informationen und Einschätzungen der ihnen vertrauten Person. Sie erkennen die vertraute Person, es gelingt ihnen aber nicht, die egozentrischen Informationen abzurufen, also ein Gefühl der Nähe zu empfinden. Deshalb wird aus dem Gedächtnis eine logische Erklärung abgerufen: Eine Person, die man zwar erkennt, aber die in uns keine Emotionen auslöst, kann nur ein Betrüger oder Doppelgänger sein, der vorgibt, diese Person zu sein.


Was lehrt uns dieses merkwürdige, aber gleichsam interessante Syndrom? Das Erkennen von uns selbst und dem Einordnen anderer Personen ist an die Funktion eines bestimmten Hirnnetzwerkes gebunden. Seien wir froh, solange unser Gehirn noch funktioniert, um uns selbst und andere zu erkennen.


Quellen:

  1. Capgras,J.and Reboul-Lachaux,J.(1923)L’illusion des sosies dans un delire systematise chronique. Bull. Soc. Clin. Med. Ment. 11, 6–16.

  2. de Bruxelles, S. (1999, 5 March). Crash victim thinks wife is an imposter. The Times, p.7.

  3. Jäncke, L. (2016). Ist das Hirn vernünftig?: Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Hogrefe-Verlag.

68 Ansichten0 Kommentare

Ein Déjà-vu ist ein Erlebnis, bei dem man das Gefühl hat, eine Situation oder Umgebung bereits zuvor erlebt oder gesehen zu haben, obwohl dies eigentlich nicht der Fall sein kann. Oft beschreiben Menschen dieses Gefühl als «Ich habe das alles schon mal erlebt» oder «Ich habe das bereits gesehen». Das Erlebnis kann sehr kurz sein, nur wenige Sekunden, oder auch länger andauern.


Als ich 1996 zum ersten Mal Mecklenburg-Vorpommern besuchen durfte, habe ich etwas Merkwürdiges bemerkt. Ich war in diesem Jahr als Professor an die Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg berufen worden. Meine Familie und ich kannten die neuen Bundesländer nicht, deshalb beschlossen wir, auf die Insel Rügen im äußersten Nordosten von Deutschland zu reisen. Wir fuhren mit unserem Auto also von Magdeburg nach Rügen und nahmen, um die Gegend zu erkunden, eine Route über Rheinsberg – über die sogenannte Deutsche Alleenstraße. Diese Fahrt war für mich ein ganz besonderes Erlebnis, nicht nur wegen der außergewöhnlichen landschaftlichen Schönheit, sondern vor allem wegen des merkwürdigen Gefühls, das mich ergriff, während wir durch die ausgedehnten Alleen fuhren: Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich das alles schon mal gesehen hatte.


Aber das war völlig unmöglich, denn ich war noch nie in diesem Gebiet gewesen. Weder vor der Wende noch danach. Dies war definitiv mein erster Besuch dieser Landschaft. Trotzdem hatte ich weiterhin das untrügliche Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein.


Dieses Gefühl (das Déjà-vu-Erlebnis) kennt sicherlich jeder. Es ist ein normales Phänomen, das sich aufgrund einer besonderen Eigenart unseres Gedächtnisses entfaltet. Solche Erlebnisse entstehen, weil unser Gedächtnis zwei Erinnerungsmodi nutzen kann. Den ersten Modus bezeichnen wir als Rekollektion. In diesem Modus suchen wir bewusst verschiedene Bruchstücke unserer Erinnerung und fügen sie zu einem stimmigen Erinnerungsbild zusammen. Der andere Modus erkennt eine Art Vertrautheit. Es ist eine Ahnung, also ein Gefühl, dass wir etwas bereits erlebt, gesehen oder gehört haben.


Beide Erinnerungsmodi können unabhängig voneinander arbeiten. Sie können aber auch zusammenarbeiten und sich ergänzen. Wird die Vertrautheit angestoßen, können wir es dabei belassen. Dann empfinden wir eben Vertrautheit, ohne dass wir tiefer in unser Gedächtnis abtauchen. Wir können aber auch versuchen, das Vertrautheitsgefühl zu erklären. Dann versucht unser Gehirn in der Regel unbewusst, das Vertraute in einen sinnvollen Kontext einzusortieren. In anderen Worten beginnt unser Gehirn die Vertrautheit logisch zu erklären.


Dabei benutzt das Gehirn im Gedächtnis bereits abgespeicherte Erinnerungsteile und baut daraus eine neue und lebhafte Erinnerung zusammen. Bei mir müssen dies im Gedächtnis abgespeicherte Bilder von Alleen gewesen sein, die während der Fahrt auf den Alleen in Mecklenburg-Vorpommern reaktiviert wurden.


Ich war immer schon von der beeindruckenden Schönheit von Alleen fasziniert. Theodor Fontane berichtet beispielsweise in seinen berühmt gewordenen Werk „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ausführlich von den von stattlichen Bäumen eingefassten Wegen. Er schildert die Wohltat, die es bereitet, durch schattige Alleen unter „prächtigen alten Linden“ oder auf einer Straße zu wandern, „deren junge Ebereschen in roter Pracht stehen“.


Mir ist auch heute noch das Gedicht von Christian Morgenstern über die Allee sehr präsent:

Die Allee

Ich liebe die graden Alleen

mit ihrer stolzen Flucht.

Ich meine sie münden zu sehen

in blauer Himmelsbucht.


Ich bin sie im Flug zu Ende

und land' in der Ewigkeit.

Wie eine leise Legende

verklingt in mir die Zeit.


Mein Flügel atmet Weiten,

die Menschenkraft nicht kennt:

Groß aus Unendlichkeiten

flammt furchtbar das Firmament.


Auch Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke haben sich in ihren Gedichten immer wieder über Alleen ausgelassen. Sicherlich haben sich mir diese sprachlichen Bilder fest eingeprägt, wobei mir die Quellen, wo und wie ich diese Bilder wahrgenommen habe, verblasst sind.


Die Interpretationsneigung unseres Gehirns zeigt sich auch in Situationen, in denen Wahrnehmung und Gedächtnis miteinander kooperieren, um eigentlich unsinnige Ereignisse sinnvoll zu erklären. Als Kinder lagen wir in den Ferien oft am Strand und betrachteten die vorbeiziehenden Wolken. Dabei ergab es sich automatisch, dass wir in den Wolken etwas Sinnvolles zu erkennen glaubten. Oft sahen wir Gebirgsformationen, gelegentlich die Umrisse von Tieren, Gesichtern oder anderen Objekten.


Dieses vermeintliche Erkennen von vertrauten Objekten in Zufallsmustern ist eine besondere Fähigkeit unseres Denkorgans: Es fällt uns bemerkenswert leicht, in Unsinn Sinn hineinzuinterpretieren. In der Wissenschaft nennen wir dieses Phänomen Pareidolie und es ist mittlerweile auch Gegenstand umfangreicher Forschung innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft. Das wahrscheinlich bekanntestes Beispiel hierfür ist das berühmte „Marsgesicht“ in der Cydania-Region des Mars. Auf der Internetseite „26 Faces in Everyday Objects“ finden sich viele weitere Beispiele, bei denen wir automatisch verleitet werden, Gesichter wahrzunehmen, obwohl keine dargestellt sind. Ein ähnliches Phänomen ist das Hören von Stimmen, auch wenn gar keine vorhanden sind, zum Beispiel bei einer Séance im Rahmen einer spirituellen Sitzung.


Was lernen wir daraus: Unsere Erinnerungen sind das Ergebnis von Interpretationen. Vertrautheiten stoßen oft Interpretationsprozesse an, die zu Déjà-vu-Erlebnissen führen. Déjà-vu-Erlebnisse sind nichts Mystisches oder Übernatürliches, sondern interessante Phänomene unseres Gedächtnisses.

19 Ansichten0 Kommentare
bottom of page