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Der Füller erlebt eine Renaissance. Das hat auch neurophysiologische Gründe.


Immer mehr Menschen verwenden wieder Füllfederhalter. Bekannte Marken wie Montblanc, Pelikan, Lamy, Sailor oder Kaweco boomen. Diese Firmen bringen in konstanter Regelmäßigkeit neue Modelle auf den Markt. Manche dieser Unternehmen spezialisieren sich auf Vintagestifte, widmen diese Stifte berühmten Künstlern, Schriftstellern oder Schauspielern. Neue Manufakturen tauchen auf, die ungewöhnliche Varianten von Füllern anbieten. Die Preise für diese Schreibgeräte driften mitunter in schwindelnde Höhen ab. Aber auch in den unteren Preissegmenten findet man eine schier unübersichtliche Anzahl von Marken und Schreibervarianten. Mittlerweile erkennen große chinesische Firmen diese Nische. Sie produzieren Füllfederhalter zu unschlagbar günstigen Preisen, manche zwar in minderer Qualität, aber viele gleichfalls mit beachtlichen Eigenschaften. Auf vielen Youtube-Kanälen äußern sich Sammler, Füllernerds und Füllerfachleute zu Füllern jeder Art. Dort werden neue und alte Modelle akribisch getestet, verglichen, bewertet und diskutiert.


Man muss feststellen: Der Füller ist nicht tot; er lebt – und wie. Wir schreiben alle mit Laptops, Tablets oder iPhones und man könnte vermuten, dass der Füllhalter ausgedient hätte. Nein er ist wieder auferstanden und erlebt so etwas wie eine Art Renaissance. Im Gepäck dieser Füllereuphorie erleben Kugelschreiber oft im Gewand der Füllfederhalter, aber auch andere Varianten von Schreibern wie Gelschreiber und Rollerballs einen neuen Hype. Doch ist es überhaupt noch zeitgemäß, einen Stift oder gar einen Füller zu verwenden?


Das Schreiben mit solchen Schreibgeräten ist nicht nur der Ausdruck einer sentimentalen Lebenshaltung oder eines snobistischen Lebensgefühls. Es ist auch mit einigen häufig nicht bewussten Vorteilen verknüpft. Wer schreibt, verbessert sein Gedächtnis, fördert die kreative Formulierung von Sätzen und hilft der Selbstdisziplin und Aufmerksamkeit. Nebenbei passt sich das Gehirn auch noch an den Schreibvorgang an.


Das fast schon archaisch anmutende Schreiben ist relativ langsam und ist mit vielen Wahrnehmungen verknüpft. Beim Schreiben sehen wir, wie sich die Tinte auf dem Papier entfaltet. Die Buchstaben und Wörter entwickeln sich rhythmisch nacheinander, wobei man jeden neuen Buchstaben immer Auge hat. Anders als beim Schreiben mit der Tastatur ist der Blick immer auf die Wörter fokussiert, die man selbst produziert. Manchmal hört man ein leises Kratzen der Feder, die über das Papier gleitet. Auch der für jeden Füller typische leichte Widerstand beim Schreiben ist etwas, dass wir bemerken. Wir spüren die Bewegungen des Armes und der Hand und wir fühlen das Material des Schreibgerätes. Das sind nur einige Wahrnehmungselemente, die den Schreibprozess begleiten. Sie alle verbinden sich mit den Wörtern, Formulierungen und Sätzen, die wir zu Papier bringen. Wörter und Schreibwahrnehmungen formen eine enge Gedankenkette. Unserem Gehirn gefällt das, denn das Langzeitgedächtnis ist ein semantisches Netzwerk. Wir erinnern das am besten, was mit vielen anderen Sachverhalten und Modalitäten (Sehen, Hören, Fühlen etc.) verkoppelt ist. Wie eine Krake mit vielen Armen krallt sich die Erinnerung in unser Gedächtnissystem. Jeder Krakenarm ist eine Information, die mit der Erinnerung verbunden ist. Je mehr Krakenarme, desto besser die Erinnerung.


Ein weiterer gedächtnisfördernder Aspekt ist, dass man beim konventionellen Schreiben mit einem Stift weniger Informationen pro Zeiteinheit zu Papier bringt, als beim beidhändigen Schreiben auf einer Computertastatur. Das bedeutet, dass man beim konventionellen Schreiben mehr Zeit zur Verfügung hat, um die Informationen ins Gedächtnis einzusortieren. Die Bildung von Erinnerungen benötigt nämlich Zeit, da unser Langzeitgedächtnis letztlich in einem Muster von synaptischen Kontakten abgelegt ist. Dieses Muster entsteht relativ langsam, da hierfür viele biochemische Prozesse angestoßen werden müssen. Das Schreiben ist also so etwas wie ein Entschleuniger, der die Konsolidierung der Erinnerung fördert.


Das Schreiben mit einem Stift wird auch neurophysiologisch anders kontrolliert als das Schreiben mittels einer Tastatur. Schreibe ich mit der bei mir rechten also dominanten Hand, sind vorrangig die linksseitigen Motorareale zur Kontrolle meiner Handbewegungen aktiv. Sie steuern meine Handbewegungen und werden von den Spracharealen, die auch auf der linken Hemisphäre lokalisiert sind, informiert und angestoßen. Es existiert demzufolge während des Schreibens ein intensiver Informationsaustausch zwischen den Sprach- und Motorarealen auf der linken Hemisphäre. Da beide Hirngebiete relativ eng beieinanderliegen und diese Hirngebiete über schnell leitende Fasersysteme eng miteinander verbunden sind, gelingt dieser Informationsaustausch schnell und effizient.



Darstellung der am Schreiben mit einem Stift und der Computertastatur beteiligten Hirngebiete (Copyright Prof. Dr. Lutz Jäncke).


Das Schreiben mit der subdominanten linken Hand wird durch die rechtsseitigen Motorareale kontrolliert. Diese motorische Steuerung ist weniger effizient und resultiert dann auch in einer krakeligeren unsauberen Schrift. Hinzu kommt noch, dass die rechtsseitigen Motorareale etwas umständlicher von den Spracharealen informiert und kontrolliert werden. Da die Sprachareale auf der linken Hemisphäre lokalisiert sind, müssen die Sprachinformationen auf die andere rechte Hemisphäre zum dortigen Motorareal geleitet werden. Dies geschieht über das Corpus callosum, einem Faserstrang, der beide Hemisphären miteinander verbindet. Dieser interhemisphärische Informationsaustausch ist zeitverzögert und mitunter fehleranfällig und damit nicht sonderlich effizient.


Wenn man jedoch mit beiden Händen schreibt, wie z. B. auf einer Computertastatur, wird die Ansteuerung der Hände problematischer. Beide Hände und damit beide Motorareale müssen miteinander über das Corpus callosum synchronisiert werden. Bei dieser Synchronisation macht es notwendig, dass noch weitere Hirngebiete hinzugeschaltet werden (zum Beispiel das supplementär motorische Areal). Hinzu kommt noch, dass diese beidhändige Tätigkeit von den Spracharealen der linken Hemisphäre informiert werden muss. Das bedeutet, dass der Informationsfluss beim beidhändigen Schreiben die Synchronisation mehrere Hirngebiete beider Hemisphären erfordert, wobei das eher ineffiziente Corpus callosum dazwischengeschaltet wird. In anderen Worten: Die Kontrolle des bimanuellen Schreibens ist neurophysiologisch komplizierter und aufwändiger.


Schreiben und Lesen sind im Übrigen eng miteinander verbunden. Man erkennt diese enge Beziehung leidlich bei der Legasthenie. Menschen, die darunter leiden, gelingt es nicht, fehlerfrei zu schreiben und zu lesen. Beim Schreiben produzieren sie typische Fehler. Zum Beispiel vergessen, verwechseln oder ersetzen sie beim Schreiben oder Lesen einzelne Buchstaben. Auch beim Schreiben- und Lesenlernen erkennt man den engen Zusammenhang. Zu Beginn wird mühsam jeder Buchstabe nacheinander laut ausgesprochen und dann zu einem Wort verbunden. Der geübte Leser und Schreiber bildet Wortgruppen oder sogar Satzfragmente. Bei geübten Lesern und Schreibern sind deshalb die Leseareale anatomisch und neurophysiologisch eng mit den motorischen Arealen zur Ansteuerung der Hand- und Sprechmotorik gekoppelt. Diese Kopplung kann mitunter so eng werden, dass beim Lesen die motorischen Areale mitaktiviert werden. Das zeigt, dass auch die motorischen Areale in das Erinnern und Erkennen der Worte und Sätze eingebunden ist.


Neuere Forschungen belegen, dass Menschen, die in Sprachkulturen leben und aufgewachsen sind, in denen nicht geschrieben wird, keine neurophysiologischen Kopplungen zwischen den Sprach- und Motorarealen aufbauen. In anderen Worten: Deren Gehirne sind weniger vernetzt, zumindest was diese spezielle und für die Sprachen wichtige Verkopplung betrifft.


Gerade Kinder, die das Schreiben erst lernen müssen, sollten zu Beginn des Schreibenlernens auf das bimanuelle Schreiben mittels der Tastatur verzichten. Erst wenn man ausreichend Übung mit der Tastatur hat, kann man auch flüssiger mit der Tastatur schreiben. Aber letztlich ist der kreative Umgang mit der Sprache immer effizienter, wenn man die neurophysiologischen Wege im Gehirn kurz und effizient gestaltet, was beim Schreiben mit einem Stift eher der Fall ist. Deshalb nutzen viele Schriftsteller zumindest für die kreativen Schreibanteile gerne Stifte. Die Hardware für die virtuelle Realität wird zwar immer ausgefeilter und ist in der Lage, multisensorische Elemente (z.B. Sehen, Hören, Tasten) in das Erlebnis einzubeziehen. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie das Schreiben mit einem Stift ersetzen können. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es anspruchsvoll ist, Ideen kreativ am Computer zu entwickeln - selbst für einen Tastaturkünstler.


Kreatives Schreiben erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache. Ablenkung kann da nur stören. Wenn ich mich kreativ mit Texten auseinandersetze, neige ich dazu, meine Ideen zuerst mit einem Stift (vorrangig Füller) zu schreiben. In der Regel sind dies Stichworte oder Satzfragmente. Für die nahezu schon mechanische Ausformulierung verwende ich meinen Laptop und entsprechende Software. Beim Formulieren nutze ich dann einfache Arbeitsumgebungen, zum Beispiel den Fokus und kümmere mich um Formatierungen und andere Spielereien. Das befreit mich von Ablenkungen. Wenn man kreativ sein will und wirklich über wichtige Dinge nachdenken muss, ist es notwendig, die Aufmerksamkeit auf die Hauptaufgabe zu richten.


Wie auch immer, ich gehe davon aus, dass in Zukunft mehr Menschen zu den „Schreibwurzeln“ unserer Kultur zurückkehren werden. Trotz des Siegeszuges der Computer, iPhones und Tablets sind die grundlegenden kulturellen Fähigkeiten des Schreibens, Lesens, Musizierens, Malens, Redens und Diskutierens immer noch wichtig. Ich kann mich sogar des Eindruckes nicht erwehren, dass diese Techniken immer wichtiger werden.

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Aktualisiert: 5. Aug. 2022


Das Gehirn des Menschen ist ein faszinierendes Organ. Eine Eigenart des Gehirns ist seine Interpretationsfähigkeit, Interpretationsneigung, ja Interpretationswut. Es will, oder eleganter formuliert, es muss die Welt interpretieren, um Chaos zu vermeiden. Denn nichts hasst das Gehirn mehr, als Durcheinander, Unvorhersehbares und nicht Erklärbares. Alles muss einsortiert, verstanden, kategorisiert, erklärt und bewertet werden. Und das passiert zügig, reibungslos, und vor allem ständig im Hintergrund. Tag und Nacht rattert das Gehirn und berechnet eine stabile Welterklärung.

Mit diesen Erklärungen sagen wir die (zumindest) nahe Zukunft vorher. Das vereinfacht unser Leben. Für diese Berechnungen nutzt unsere Denkzentrale unser Gedächtnis und unsere Wahrnehmungen. Das bedeutet, dass diese Deutungen und Vorhersagen auf individuellen Erfahrungen beruhen. Es sind unsere Deutungen. Sie gehören zu uns, wie unsere Augenfarbe, unsere Haare und unsere Erinnerungen. In anderen Worten: Unser Gehirn ist eine Interpretations- und Vorhersagemaschine, die die Welt höchst individuell interpretiert. Und all das passiert im Hintergrund und bleibt (überwiegend) unbewusst.


Hat unser Gehirn eine individuelle Interpretation und Vorhersage berechnet, muss es herausfinden, ob Andere diese teilen. Subjektive Deutungen der Welt können gefährlich sein. Sind sie zu persönlich und teilt niemand sie, wird man schnell als Aussenseiter gebrandmarkt. Biologisch betrachtet, ist ein Aussenseiter in einer riskanten Position. Deshalb testen wir erst zaghaft, dann aber mutiger unsere Deutungen, indem wir sie zunächst unseren Freunden und Bekannten mitteilen. Dann tasten wir uns zögerlich und mutiger werdend in den Orbit der fremden Menschen um uns herum vor. Finden wir Gleichgesinnte, die die Welt ähnlich auffassen, fühlen wir uns bestärkt. Physiologisch äussert sich das in einem Mechanismus, den die Psychologen und Neurobiologen „Belohnung“ und „Verstärkung“ nennen. Im Moment der Verstärkung schüttet unser Belohnungszentrum den Transmitter Dopamin aus und löst damit eine Kette von psychologischen und physiologischen Reaktionen aus. Begleitet wird diese Erregungskette von angenehmen Gefühlen und wenn es richtig intensiv wird, sogar von Lust oder Glück.


Aber wehe, wenn irgendwelche Personen diese Interpretationen nicht teilen, sie ablehnen oder ansatzweise kritisieren; dann reagieren wir automatisch mit Abwehr oder Verteidigung. Die Abwehr-, Verteidigungs- oder Fluchtnetzwerke in unserem Gehirn arbeiten dann auf Hochtouren. Sie lösen die passenden Verhaltensweisen aus. Flucht in die Arme von Gleichgesinnten ist eine elegante und häufig genutzte Strategie. Sie spendet Sicherheit und löst einen Ausstoss von Dopamin in unserem Belohnungszentrum aus. Kritiker werden bekämpft, was durch den Kampfmodus unseres Gehirns kontrolliert wird. Am besten kämpft man mit mit den Gleichgesinnten gegen die anderen. Aber im Kampf ist man selten vernünftig im klassischen Sinne. Man ist vorwiegend emotional, verärgert und aggressiv, gelegentlich auch gemein.


Ein interessanter Nebenaspekt bei diesen Prozessen ist, dass alles schnell und vor allem überwiegend unbewusst abläuft. Die Konsequenz ist, dass wir in solchen Verteidigungs- und Kampfsituationen oft den größten Blödsinn verteidigen und andere – vielleicht sogar sinnvollere – Interpretationen angreifen. Einfach nur, weil sie nicht in unsere Auffassung der Welt hineinpassen. Dann hilft auch unsere gegebenenfalls überragende Intelligenz nicht mehr, außer, dass sie uns hilft, unsere Deutungen zu verteidigen und selten zu korrigieren.


Dies sind einige Ursachen für die manchmal merkwürdige Vielfalt der Meinungen und Erklärungen von Politikern unterschiedlicher Parteien. Die sind ja nicht alle minderbegabt (was die Gegner oft gerne ins Feld führen), sondern ihre Gehirne gelangen auf der Grundlage individueller Informationen zu anderen Schlussfolgerungen. Dies sind aber auch die Ursachen für die oft andersartigen Deutungen von historischen Gegebenheiten, sozialen Regeln und vielen anderen Geschehnissen des alltäglichen Lebens. Egal, welche Auffassungen der Welt man entwickelt (mögen sie aus bestimmten Blickwinkeln noch so merkwürdig erscheinen), man findet immer Anhänger seiner Weltdeutungen. Gemeinsam mit ihnen verteidigt man seine Weltsicht gegen andere Betrachtungsweisen. Das ist biologisch gesehen völlig normal, denn das menschliche Gehirn konstruiert eigene Kulturen mit eigenen Regelsystemen. Diese Regelsysteme müssen sich praktisch in einem Wettkampf gegen konkurrierende Regelsysteme erwehren. Bestehen sie, werden sie übernommen.


Aber eine Konstante ist mit allen subjektiven Interpretationen verbunden: Je subjektiver eine Weltdeutung ist, desto emotionaler wird sie verteidigt. Wie schön wäre es, wenn man die Welt mit einer mathematischen Gleichung beschreiben könnte. Aber davon sind wir weit entfernt. Wir müssen uns leider mit der Vielfalt der subjektiven Interpretationen der Welt auseinandersetzen, auch wenn sie aus unterschiedlichen Perspektiven merkwürdig oder absurd erscheinen. Der Mensch ist von der Natur so konstruiert, dass die verschiedenen Weltdeutungen miteinander konkurrieren und sich jene durchsetzen wird, die zu den größten Überlebensvorteilen führt.


Deshalb müssen wir in einer freien Welt lernen, auch Blödsinn auszuhalten. In einer freien Welt sollten wir unsere eigenen Deutungen mitteilen und unsere Mitmenschen davon überzeugen.
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Das Gehirn des Menschen hat sich im Verlauf der Evolution zu einem Werkzeug entwickelt, das unter anderem für Kommunikation und den Aufbau von Vertrauen spezialisiert ist. Heutzutage wird es aber mit vollkommen neuen Anforderungen konfrontiert, für die es biologisch gar nicht vorbereitet ist.


Vor allem in den vergangenen 10 bis 12 Jahren (Erfindung des iPhone und iPad) erleben wir für die Menschheitsgeschichte einmalige kulturelle Veränder­ungen. Neben den vielen begrüssenswerten Möglichkeiten, die sich mit der Einführung dieser Technologie eröffnen, haben sich aber massive Probleme offenbart, für die insbesondere das jugendliche Gehirn nicht vorbereitet ist. Dies sind (1) der Umgang mit der enormen Menge an Informationen und (2) die veränderte zwischenmenschliche Kommunikation.


Praktisch jederzeit und an jedem Ort findet man das gesamte Produktionsinventar menschlichen Daseins im WWW. Diese enorme Menge von «Informationen» überfordert unser Gehirn massiv, was gelegent­lich dazu führt, dass wir letztlich nicht mehr die Agenten unseres eigenen Handelns sind. Wir werden dann mehr oder weniger die «Sklaven» der unser Verhalten bestim­men­den Reize.


Mit entsprechend stark ausgeprägter Selbstdisziplin kann man allerdings diesen Verlockungen widerstehen. Die Kraft zur Selbstdisziplin entfaltet sich im Frontalkortex, in dem sich neuronale Netzwerke befinden, die uns zur Kontrolle von Emotion, Motivation und der Aufmerksamkeit befähigen. Bei Jugendlichen und vor allem Pubertierenden sind diese so wichtigen Netzwerke noch gar nicht voll ausgereift. Demzufolge arbeiten diese Netzwerke suboptimal, was im Wesentlichen auch die suboptimalen Leistungen hinsichtlich der von ihnen kontrollierten psychischen Funktionen erklärt.


Mit den neuen Kommunikationswerkzeugen treten wir in Kontakt mit Kommunikationspartnern, die wir nicht sehen, zumindest nicht im Moment des Kommunikationsaktes. Im Grunde sind unsere Gesprächspartner Avatare, also digitale Wesen, denen wir lediglich imaginativ reale Personen zuordnen können. Kurzum, die Kommunikation wird zunehmend unbiologischer. Es fehlt der direkte Augen- und Gesichtskontakt, was zur Folge hat, dass wir die über Hunderttausende von Jahren perfektionierten nonverbalen Kommunikationsmechanismen nicht mehr nutzen. Das führt dann zu einer enthemmten, fragmentarischen, ineffizienten und gelegentlich fehlerhaften Kommunika­tion über die digitalen Kanäle. Hinzu kommt noch eine zunehmende Vereinfachung und Verfälschung der verbalen Signale durch den Gebrauch von Dialekten, sowie unbeholfener und grammatikalisch fehlerhafter Sprache. Das wäre ungefähr so, wie wenn wir bei einem Kinofilm die Bilder wegschneiden und den auditorischen Kanal verfremden und fragmentieren würden.


Aber wie meistern wir die Probleme dieser digitalen Revolution und, was viel wichtiger ist, wie sollen die Heranwachsenden damit umgehen? Ein wesentlicher Weg aus der digitalen Falle ist meines Erachtens die Reduktion der vielen verlockenden Reize. In anderen Worten, wir müssen die Welt der Heranwachsenden an manchen Punkten überschaubarer und damit bewältigbarer gestalten. Das bedeutet, wir müssen sie vor dieser Reizüberflutung bewahren und gleichzeitig auch darauf achten, dass die biologisch fundierte nonverbale Kommunikation gepflegt wird. Dabei dürfen wir nicht vergessen, die nicht voll ausgereiften Frontalkortexfunktionen (Emotions-, Motivations- und Aufmerksamkeitskontrolle sowie Selbstdisziplin) üben zu lassen. Wir müssen unsere Heranwachsenden anleiten, bestimmte Dinge konzentriert und kontrolliert über längere Zeit zu bewältigen. Vor allem müssen wir sie anleiten und ihnen vormachen, dass «weniger mehr ist». Die Konzentration auf Wesentliches muss in Zukunft im Vordergrund stehen und nicht die Hingabe an das Beliebige.

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